Polen

FC Barcelona-Schule in Warschau

„Zuviel Fernsehen!”, ereifert sich Marek Krzywicki. „Diese Kinder schauen einfach zu viel fern.” Was ihm missfällt, sind zwei Showeinlagen beim Training der neun- bis zehnjährigen Kicker der FCB-Escola Varsovia. Die Schule ist der Warschauer Ableger der weltbekannten Kaderschmiede „La Masia” des katalanischen Spitzenklubs FC Barcelona.

Zunächst hatte sich einer der Fußballknirpse beim Kampf um den Ball betont theatralisch auf den Kunstrasen fallen lassen, um sofort topfit wieder aufzuspringen, als er merkte, dass diese Einlage niemanden beeindruckte. Das Trainingsspiel lief weiter, bis ein anderer Spieler freistehend vor dem Tor an den Ball kam. Doch statt ihn sicher mit dem Innenrist ins Netz zu schießen, tippte er ihn elegant mit der Hacke – an den Pfosten.

„Sie wollen so sein wie die großen Stars und schauen sich auch das Schlechte ab.” Das kann Marek von Amts wegen nicht gefallen. Als Standortkoordinator einer der Trainingsanlagen, die von der Barca-Fußballschule in Warschau genutzt werden, ist er der komplexen Barca-Trainingsphilosophie verpflichtet. Diese beinhaltet neben der Ausbildung einer guten Balltechnik auch die Vermittlung von positivem Denken, Respekt und Fairplay.

Macho-Gehabe und fiese Tricks wie bei den großen Vorbildern sind da nicht hilfreich. Dennoch profitiert die Barca-Fußballschule vom Antrieb auch der polnischen Kinder, so zu werden wie die Lichtgestalten des FC Barcelona, wie Messi, Iniesta oder Puyol. Im Herbst 2011 eröffnete sie den Trainingsbetrieb in Warschau. 3.000 Kinder bewarben sich um einen Platz, wollten Teil der FC-Barcelona-Welt werden. Nach einem ganztägigen Test wurden 600 Glückliche ausgewählt. Darunter auch zwölf Mädchen, die nicht separat, sondern gemeinsam mit den Jungen ihrer jeweiligen Altersgruppe trainieren.

Kurz vor Trainingsbeginn scharrt eine kleine Gruppe von Jungen ungeduldig mit den Fußballschuhen. „Mein Vorbild ist Leo Messi, sagt der 11-jährige Maciej gewitzt, „der spielt aber nicht bei der EM, weil er Argentinier ist.“ Und er fügt hinzu: „Klar bin ich für Polen.“ Auch der schmächtige Bartek sagt resolut: „Wir sind alle für unsere Weiß-Roten, aber Spanien wird Europameister.“ Und dann stimmen sie den neuen EM-Gassenhauer „Koko Koko EURO Spoko“ an. Ein Lied der Frauen-Folklore-Gruppe „Jarzebina“ (Vogelbeere), das bei einem TV-Contest sensationell zur Hymne der polnischen Nationalelf gekürt wurde. Geht ins Ohr und bleibt kleben.

Die Eltern haben ihre eigenen Gründe, die 190 Zloty – umgerechnet 45 Euro – Monatsgebühr für die Barca-Schule zu investieren: ein gewisses Sicherheitsbedürfnis sowie das Streben nach Weltläufigkeit. Polen hat in den letzten 20 Jahren eine rasante Entwicklung durchgemacht. Das stetige Wirtschaftswachstum von durchschnittlich fünf Prozent im Jahr hat die soziale Schere zwischen einer gut ausgebildeten, städtischen Mittelschicht mit lukrativen Jobs und all jenen, die auf staatliche Transferleistungen angewiesen sind, weit auseinander klaffen lassen. Privater Wohlstand trifft auf öffentliche Armut.

Beim wohlhabenderen Drittel der Bevölkerung mit Jahreseinkommen zwischen umgerechnet 18.000 und 50.000 Euro entsteht dadurch ein latentes Gefühl der Unsicherheit. In keiner anderen europäischen Stadt wächst die Zahl der eingezäunten, kameraüberwachten Siedlungen so stark wie in Warschau. In dieser Logik liegt auch, bei der Freizeitgestaltung der Kinder nach zugangsbeschränkten, wohl organisierten Einrichtungen zu suchen, die einen gleichbleibend hohen Standard bieten, Renommee ausstrahlen und auch etwas kosten dürfen. In dieses Schema passt die FCB-Escola Varsovia genau hinein.

In räumlicher Abgeschiedenheit findet das Barca-Training allerdings nicht statt, denn man nutzt vier stadteigene, über ganz Warschau verteilte Trainingsplätze. Im Stadtteil Ursynow beispielsweise ist alles eng, quirlig, lebhaft. 25 Prozent der Einwohner dieses schnell wachsenden Bezirks sind unter 18 Jahren, die 5-10stöckigen Häuser reichen bis dicht an den Fußballplatz heran. Bevor das Barca-Training beginnt, müssen wilde Spontankicker, die nach der Schule einfach nicht nach Hause gegangen sind, das Feld räumen.

Jaafar Ben Said ist einer von vielen Vätern und Müttern, die das Training ihrer Kinder beobachten. Jaafar kam in den 1980er Jahren aus Tunesien zum Studium nach Polen, machte seinen Doktor in Sportpsychologie und blieb. Heute besitzt er eine Agentur für Sportreisen. Und er hat einen strohblonden Sohn namens Janek, der mit viel Begeisterung über den Platz wirbelt.

„Polnische Fußballvereine haben Schwierigkeiten, ein gutes Niveau zu halten in ihrer Arbeit mit den Kindern“ sagt Jaafar, nicht nur als Vater, sondern auch als Fachmann. „Kommt ein neuer Trainer, ist alles ganz anders als vorher, die Methoden sind von vorgestern, und organisatorisch geht andauernd etwas schief.“ Das Training dagegen, wie es so oder ähnlich in allen Barca-Schulen der Welt durchgeführt wird, heißt vor allem: kleine Trainingsgruppen, kein langweiliges Konditions- oder Krafttraining, sondern immer am Ball sein. Schnelles Passspiel – das berühmte Tiki-Taka des FC Barcelona –, Dribblings, Torschuss und Taktik in 1.000 verschiedenen Trainingsformen und immer auf engstem Raum.

Jaafar und sein Sohn Janek wohnen im Stadtteil Wilanow, nicht weit vom Trainingsplatz entfernt. So bleibt Janek auch noch Zeit für andere Interessen, etwa Klavierunterricht, wie Jaafar nicht ohne Stolz anmerkt. Auf die Frage nach der Fußballkarriere winken Vater und Sohn ab: „Die Atmosphäre bei Barca ist einfach gut und es macht Spaß, hier zu spielen“, findet Janek.

In der Tat steht die Idee der Nachwuchsrekrutierung für das katalanische Profiteam bei den Schulgründungen der letzten Jahre in Kairo, Dubai, Kuweit, Fukuoka und Warschau nicht im Vordergrund. Eher scheint die Trainingsarbeit Teil einer globalen Marketingstrategie zu sein.

Carlos Alos, der aus Barcelona nach Warschau entsandte Technische Direktor, ein Barca-Diplomat im Trainingsanzug, reagiert genervt auf die Frage, ob er denn schon das polnische Supertalent erspäht habe, welches bald schon in Spanien sein Glück machen könnte: „So etwas ist nicht ausgeschlossen, aber nicht Sinn und Zweck unserer Arbeit hier. Wir wollen Kinder stark machen durch die Erfahrung, wie viel Freude es macht, etwas ernsthaft und methodisch zu betreiben.“

Am ruhigeren, weitläufigeren Trainingsgelände in der Nähe des Warschauer Ostbahnhofs im Stadtteil Praga, gelegen zwischen einer Industrieruine und der Herz-Jesu-Basilika, stehen die Eltern im separaten Zuschauerbereich und vertreiben sich die Zeit bei einem Schwätzchen. Auch hier ist die EM im eigenen Land natürlich ein Thema;die schönen neuen Stadien, aber auch die nicht vorhandenen Autobahnen.

„Die Autobahn haben wir in Oberschlesien zwar schon lange“, meint Krzysztof, einer der Väter, „aber leider sind wir kein EM-Standort.“ Der sonnengebräunte Mittvierziger, Inhaber einer Beratungsfirma, schaut hier seinem 10-jährigen Sohn Michal beim Barca-Training zu. Die Bahnhofsnähe dieses Trainingsplatzes hat für Vater und Sohn entscheidende Bedeutung.

Krzysztof und Michal kommen aus dem oberschlesischen Katowice und fahren die 300 km lange Strecke nach Warschau zwei- bis dreimal die Woche mit dem Zug hin und zurück – für jeweils 75 Minuten Fußballtraining. „Ja, es ist schon ein wenig verrückt“, findet auch Krzysztof und blinzelt dabei skeptisch in die Abendsonne. „Vorher hat Michal bei GKS Katowice gekickt, die Trainer dort meinten, er habe viel Talent und diese Schule könne ihn weiter bringen.“ Michal selbst war Feuer und Flamme, und so machte er im letzten Herbst die Aufnahmeprüfung der Barca-Schule und war am Ende des Tages einer der 600 Auserwählten.

Seitdem ist ziemlich viel Bewegung und auch Stress in sein Leben gekommen. Michal verpasst durch die vielen Zugfahrten Schulunterricht, muss das Pensum in Absprache mit den Lehrern im Zug oder am Wochenende nachholen. Und andere Aktivitäten? „Das ist das große Problem“, bekennt Krzysztof, „außer Schule und Fußball ist für nichts anderes mehr Zeit. Ich selbst war in meiner Jugend Gitarrist in einer Heavy-Metal-Band und weiß gut, dass ein Junge auch noch anderes in seiner Freizeit machen könnte.“

Michal selbst findet, dass sich die Strapazen lohnen: „Das Niveau hier ist viel höher als in Katowice. Dadurch, dass die anderen sehr gut spielen sind, verbessere auch ich mich. Und wenn ich mal mit meinen Kumpels in Katowice spiele, merke ich, dass ich Fortschritte gemacht habe.“ Manchmal sei er wirklich müde und habe Kopfschmerzen, sagt er später noch, aber dann könne man auch problemlos mal ein Training ausfallen lassen.

Und was hält die Mutter von diesem intensiven Hobby? Dies sei ein sehr heikler Punkt und der Grund, warum Krzysztof seinen Nachnamen nicht so gern in der Zeitung lesen will. „Wir leben getrennt. Sie könnte mir vorwerfen, dass ich unseren Sohn zur eigenen Profilierung benutzen will.“


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