Polen

Danzig – Hauptstadt des Bernsteins

Schrille Töne einer Schleifmaschine dringen in die Ohren. Ein intensiver Harzduft füllt den Raum. In den Händen von Zbigniew Strzelczyk wird aus einem grauen Klumpen ein honigfarben glänzender Stein. Innen sieht man einen kleinen, unauffälligen Fleck. „Eine Kakerlake! Wie schön“, freut sich Strzelczyk. Ein seltener Fall, denn immerhin ist das Insekt alles andere als ein gewöhnlicher Schädling. Über 45 Millionen Jahre alt ist es, genauso alt wie der Bernstein selbst.

Danzig ohne Bernstein ist unvorstellbar. Der vor Millionen Jahren in Form eines Steines erstarrte Harz gehört zur Stadt wie die Gewerkschaft Solidarnosc und Lech Walesa. Schon vor 6.000 Jahren, lange vor der Stadtgründung, lebten die Menschen in der Gegend vom sogenannten „Ostsee-Gold“. Und hier endete später der „Bernsteinweg“, über den sich sogar die alten Griechen und Römer den Stein besorgten, um ihn als Schmuck und für religiöse Rituale zu nutzen.

Heute gilt Danzig als Bernsteinhauptstadt der Welt. Überall in der Altstadt hängen honigfarbene Ketten, Anhänger, Ringe und Armreife in Schaufenstern und an Ständern. Ein Muss für Touristen ist die stimmungsvolle Marienstraße, in der ein Laden neben dem anderen Bernstein anbietet.

Über 2.000 Firmen verarbeiten und verkaufen in der Region das Gold der Ostsee. Neben einem Bernsteinmuseum gibt es in Danzig jährlich auch die größte Bernsteinmesse der Welt. Touristen werden im Sommer mit einer „Meisterschaft im Bernsteinfischen“ angelockt. Auch das neue EM-Stadion in Danzig, wo die Nationalelf am Freitag gegen Griechenland spielt, glänzt bernsteingold.

Der 60-jährige Zbigniew Strzelczyk ist ein echter Danziger Bernsteinmeister. Davon gibt es nur zwei in der Stadt. „Das EU-Recht verlangt von Bernstein-Verkäufern keinen professionellen Abschluss“, erläutert Strzelczyk. Deshalb verzichteten die meisten auf den Meister, denn die Ausbildung sei sehr schwer, so Strzelczyk. Für den studierten Maschinenbauingenieur war der Weg zum Bernstein ein Zufall. Er arbeitete als Manager in einer Genossenschaft, die unter anderem Bernstein verarbeitete. Bald merkte er, dass Management nichts für ihn war. Doch in den Bernstein verliebte er sich. Er ließ sich zum Meister ausbilden und ist dem Stein 38 Jahre treu geblieben. „Bernstein ist meine Liebe. Bernstein ist ein Teil von mir“, sagt er.

In seiner Werkstatt direkt an der Motlawa stapeln sich Hunderte der unauffälligen grau-bräunlichen Klumpen. Sie sind nicht etwa honiggelb, wie man sie sich vorstellt. „Enttäuscht?“, lacht der Bernsteinmeister. Der natürliche Bernstein sieht bescheiden aus. Erst nach dem Schleifen zeigt er sich in einer breiten Farbenpalette: von Zitronen- über Honiggelb, Braun und Milchweiß, bis hin zu Tiefschwarz. Die wertvollsten Steine beinhalten Inklusionen: Blumen, Samen, Insekte oder sogar kleine Tiere, die bei der Erstarrung des Harzes innen für die Ewigkeit gefangen wurden.

In den Händen des Meisters werden sie zu begehrten Schmuckstücken. „Eigentlich entscheidet der Bernstein selbst, was ich aus ihm machen soll“, erzählt Strzelczyk. „Ich nehme ein Stück in die Hand, und er spricht zu mir: ‚Mach aus mir einen Anhänger oder doch lieber eine Brosche.‘ Er ist von der Natur für dieses oder jenes Schmuckstück geschaffen.“ Strzelczyk greift nur wenig ein in die natürliche Schönheit des Steins. „Ein bisschen polieren, schleifen, in Silber einsetzen. So ist er am schönsten.“

So mögen es die Kunden aus Nordeuropa, aber auch aus der Schweiz oder Deutschland. Für die Kunden aus dem Süden, Italien oder Spanien, muss er aufwändigere Barockformen entwerfen. Heutzutage erlebe der Bernstein eine Renaissance, so Strzelczyk: „Es gibt eine Rückbesinnung auf die Natur.“ Immer mehr Kunden melden sich bei ihm, dazu gehören auch Künstler aus der ganzen Welt, die Bernstein in ihrer Arbeit anwenden. Der Bernsteinmeister organisiert für sie spezielle Kurse.

Aber nicht nur Schmuck macht Strzelczyk aus dem Bernstein. „Er ist auch eine wunderbare Medizin“, weiß er. Strzelczyk stellt aus Bernstein eine Flüssigkeit her. „Die Kompressen heilen Wunden und lindern Rheumaschmerzen“, ist er überzeugt.

Seinen Bernstein kauft Strzelczyk zwar meistens im Großhandel, aber immer noch sammelt er auch selbst die Klumpen am Strand. Vor allem im Winter, wenn die Seestürme die Bernsteinstücke aus der Meertiefe hochspülen. „Es ist oft so kalt, dass man sich mit einem Likör oder Wodka aufwärmen muss.“ Stundenlang watet Strzelczyk im eiskalten Wasser mit einem Kescher, zwischen Ästen und Algen. Darauf würde er nicht verzichten. Es sei ein erfüllender Moment, wenn man einen Bernstein entdeckt, sagt er.

Eigentlich ist Bernstein nicht nur an der Ostsee zu finden. Es gibt ihn auch in Südamerika und China. Doch der baltische ist der wertvollste, weil der älteste. Auf mindestens 45 Millionen Jahre wird sein Alter geschätzt. Der baltische Bernstein kommt vor allem in Pommern und Kaliningrad vor. Ein Großteil wird ganz unromantisch industriell direkt aus der Erde gefördert. Doch Danzig spezialisiert sich auf der Verarbeitung. Seit Jahrhunderten.

Immer öfter werden Touristen allerdings abgezockt. Ihnen wird billiger Bernstein aus China oder sogar ein synthetischer Stein als baltischer Bernstein angeboten. Strzelczyk und andere seriöse Händler verkaufen deshalb jedes Schmuckstück mit einem Zertifikat, das die Authentizität bestätigt.

Die Kinder von Zbigniew Strzelczyk haben andere Berufe gewählt. Seine Hoffnung setzen er und seine Frau deswegen jetzt in die Enkelkinder. „Momentan sind sie noch klein und interessieren sich nicht für Bernstein“, sagt der Meister, ist aber überzeugt: „Eines Tages kommt das noch.“ Die Danziger Tradition muss schließlich weiter leben.


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