Mordanklage: Die Jagd auf Timoschenko ist neu eröffnet
Kritiker beschreiben Renat Kusmin als Kettenhund des ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch. Beißhemmungen sind dem stellvertretenden Generalstaatsanwalt in jedem Fall fremd. Kurz vor der Halbzeit der Fußball-Europameisterschaft in Polen und der Ukraine eröffnete Kusmin am Montag die Jagd auf die inhaftierte Oppositionsführerin Julia Timoschenko neu. „Wir haben Beweise, dass sie 1996 am Mord an dem Geschäftsmann Jewgeni Schtscherban beteiligt war, und wir werden sie anklagen“, erklärte Kusmin in einem Interview.
Es wäre das dritte Verfahren gegen die ehemalige Regierungschefin, die bereits zu sieben Jahren Gefängnis wegen Amtsmissbrauchs verurteilt wurde und wegen Steuerhinterziehung angeklagt ist. Die EU spricht von politisch motivierter Rachejustiz und fordert die Freilassung der 51-Jährigen, die nach einem Bandscheibenvorfall starke Schmerzen hat und in einer Klinik untergebracht ist. „Das einzige Hindernis für die Anklage ist ihre Krankheit“, gab Kusmin zu Protokoll.
Der Mordfall selbst wirft ein grelles Schlaglicht auf das Ringen zwischen Timoschenko und ihren Gegnern. Sie alle teilen eine undurchsichtige Vergangenheit. Im November 1996 schossen Auftragskiller Schtscherban auf dem Flughafen im ostukrainischen Donezk nieder. In dem Kugelhagel starben auch seine Frau und mehrere Besatzungsmitglieder seines Privatjets. Die Mörder wurden später verhaftet, ihre Hintermänner aber blieben im Dunkeln.
Die späten 90er Jahre waren die Hochzeit der ukrainischen Mafiakriege. Kenner dieser Szene behaupten, Schtscherban habe dem sogenannten Donezker Klan angehört. Diesem Kreis ordnen sie auch den heutigen Präsidenten Janukowitsch zu. Der wichtigste Gegenspieler der Donezker war Mitte der 90er Jahre Ministerpräsident Pawel Lasarenko. Er war zugleich Protegé der „Gasprinzessin“ Julia Timoschenko, die auf undurchsichtige Weise zu Milliardenreichtum gelangt war. Staatsanwalt Kusmin behauptet nun, es gebe keinen Zweifel an der Beteiligung Lasarenkos und Timoschenkos am Schtscherban-Mord. Ein Kronzeuge aus den Reihen der Mafia arbeite mit den Ermittlern zusammen.
Fakt ist: 1999 floh Lasarenko in die USA, wo er mit schmutzigen Millionen Immobilien gekauft hatte, und wurde dort wegen Geldwäsche zu neun Jahren Haft verurteilt. Völlig von der Hand zu weisen sind Kusmins Thesen vor diesem Hintergrund nicht. Erhebliche Zweifel an den Schuldzuweisungen gibt es aber sehr wohl. So führt eine wichtige Spur in dem Mordfall in die Reihen des Donezker Klans selbst, in dem Schtscherban viele Feinde hatte. Kusmin verliert darüber kein Wort.
Wichtigster Zweifel ist die offenkundige Voreingenommenheit der ukrainischen Justiz. Niemand anderes als Präsident Janukowitsch selbst verkündete vor wenigen Tagen, dass es für die „Verbrechen Timoschenkos“ Beweise gebe, „einschließlich der Ermordung von Jewgeni Schtscherban“. Die in Rechtsstaaten geltende Unschuldsvermutung wischte er dabei vom Tisch und griff mit seinem Urteil den laufenden Ermittlungen vor.
Offen ist, ob sich der Konflikt zwischen der EU und der ukrainischen Regierung noch während Europameisterschaft ein weiteres Mal zuspitzt. In der Woche vor dem Finale sind zwei weitere Gerichtsverhandlungen gegen Timoschenko angesetzt. Gut möglich, dass sie wegen der Krankheit der Angeklagten erneut vertagt werden. Die spannende Frage aber bliebe auch dann: Wird sich Angela Merkel bei einem Endspiel mit deutscher Beteiligung zusammen mit Präsident Janukowitsch auf die VIP-Tribüne setzen? Die Bundeskanzlerin will sich kurzfristig entscheiden.