Tschechien

Auf die Straße gestellt

„Das Schlimmste in meinem Leben habe ich hinter mir“, sagt die 15-jährige Jolanka*. „Ich erzähle alles.“ Aber im Interview, zu dem sie ihre Freundin Petra* mitgebracht hat, wird das schlanke Roma-Mädchen dann einsilbig. Sie wohne bei Verwandten, besuche die Grundschule im tschechischen Cheb und gehe nachmittags mit ihrem Freund im Park spazieren. Ein ganz normales Leben in einer gewöhnlichen tschechischen Kleinstadt – auf den ersten Blick. Nur zögerlich erzählen die Mädchen von Deutschen, die Kindern aus dem Auto heraus Bonbons anbieten, von Freundinnen, die zur Prostitution gezwungen werden und von Perversen, die auf Babys stehen.

All das gehört auch zu ihrem Alltag, im herausgeputzten Cheb mit 35.000 Einwohnern, mit bonbonfarbenen Renaissance- und Barockhäuschen, den Gässchen, der Burg und dem Marktplatz. Unweit der malerischen Altstadt steht eine junge Frau mit hohen Stiefeln, kurzem Röckchen und dicker Gänsehaut.

Westböhmen, Nordostbayern und Südsachsen – Armut und Wohlstand treffen hier aufeinander: Nur zehn Kilometer trennen Cheb, das ehemalige Eger, vom reichen Westeuropa. Immer wieder kurven Autos mit deutschen Kennzeichen durch den Ort. Einige kommen wegen der billigen Zigaretten, des Alkohols und des großen Vietnamesenmarkts. „Und viele lockt immer noch der vermeintlich rechtsfreie Raum und die vermeintlich rechtlosen Frauen“, weiß Cathrin Schauer.

Die 49-jährige Plauenerin ist oft bis zum Morgengrauen im Rotlichtmillieu unterwegs, spricht Frauen an und verteilt auf dem Straßenstrich Kondome, Gleitgel und Spritzen. Seit knapp 20 Jahren kämpft sie mit ihrem Verein „Karo“ gegen Zwangsprostitution, Menschenhandel und sexuelle Ausbeutung von Kindern.

Nach der Wende kamen die Sex-Touristen

Die zurückhaltende Jolanka kennt sie schon lange. „Jolankas Mutter hat das Mädchen schon als Dreijährige geschminkt und pädokriminellen Männern am Autofenster angeboten.“ Reden will das Mädchen darüber nicht. Dabei war Jolanka damals kein Einzelfall: Deutsche Sex-Touristen kommen in der Nachwendezeit in Scharen ins tschechische Grenzgebiet, um sich Frauen und Kinder am Straßenrand auszusuchen. Das ist bequemer, als nach Thailand zu fliegen. Laut einer UN-Studie von 2008 über Gewalt gegen Kinder werden weltweit 1,8 Millionen Kinder pro Jahr zur Prostitution und Pornografie gezwungen und 1,2 Millionen Kinder wie Ware verkauft – viele von ihnen für sexuelle Zwecke.

Viele suchen „etwas Junges“. „Es handelt sich dabei nicht um verhuschte Pädosexuelle, sondern immer noch um ganz normale Männer, um übersättigte Gelegenheitstäter, die bis auf Sex mit Minderjährigen bereits alles für sie Reizvolle ausprobiert haben“, erklärt Adolf Gallwitz. Der Polizeipsychologe beobachtet den Sex-Tourismus an der deutsch-tschechischen Grenze. „Wenn eine Region erst einmal so einen Ruf hat, dann ebbt die dramatische Nachfrage aus dem Ausland lange nicht ab“, weiß Gallwitz. „Junge Menschen und benachteiligte Familien sind durch diese präsente Nachfrage besonders von der Gefahr bedroht, in etwas hineinzurutschen, dass sie eigentlich nicht wollen.“

Viele von ihnen wissen nicht einmal, dass Geschlechtsverkehr mit Kindern nicht rechtens ist. Auch darüber klärt Cathrin Schauer auf, so wie sie es damals bei Mirek* getan hat. Der heute 24-Jährige ist ein Bekannter von Jolanka und Petra. Er war schon als Zwölfjähriger unterwegs, um deutsche Sex-Touristen zu befriedigen – aus Not. „Was hätte ich denn machen sollen? Leute bestehlen und meinen Eltern zusätzliche Probleme bescheren?“, fragt der jungenhaft aussehende Roma. Zurzeit muss er mit 1.280 Kronen Arbeitslosengeld auskommen, das sind knapp 50 Euro monatlich. Für Sex mit Deutschen gibt es laut Mirek „20 oder 25 Euro – je nachdem“.

Termin per Internet und Handy

Inzwischen sind es nicht mehr Kinderhemdchen im Fenster, die den billigen Sex mit Schutzbefohlenen anpreisen. Stattdessen bekommen die Täter heute bequem und ungefährlich einen Termin per Internet oder Mobiltelefon. Cathrin Schauer weiß: „Innerhalb von fünf Minuten kann ein Deutscher hier immer noch ein zwölfjähriges Mädchen neben sich auf dem Beifahrersitz haben, wenn er will.“ Und das, obwohl auch in Tschechien Beischlaf mit Jugendlichen unter 15 Jahren strafbar ist.

„Meine Mutter ist auch auf den Strich gegangen“, erzählt Jolanka zögerlich. „Und dann kam sie ins Gefängnis, unter anderem, weil sie Kinder angeboten hat“, weiß Cathrin Schauer. Die waren damit gleich doppelt bestraft: „Der schlimmste Tag in meinem Leben war, als sie meine Eltern verhaftet haben“, sagt Jolanka, die sich dafür immer noch schämt. Damals war sie etwa sieben Jahre alt. Noch bis vor kurzem hat sie mit ihren Geschwistern in der Wolkerova-Straße unweit des Bahnhofs gewohnt, wo Prostituierte sich auch tagsüber präsentiert haben. „Die Wohnungen haben keine Heizung und kein fließendes Wasser, und es gibt Ratten“, erzählt sie. Bewohnt ist derzeit nur noch eines der ruinösen Häuser – auch von Tschechen.

Deren Nachwuchs ist genauso von sexuellem Missbrauch bedroht wie der der Roma. Mirek sagt, dass es in seinem Heimatort viele Minderjährige gebe, die sich prostituieren: „So wie überall.“ Genaue Zahlen zur Kinderprostitution in Tschechien sind laut einer Studie der Kinderrechtsorganisation Ecpat Tschechien aber nur schwer zu bekommen. „Es sind meist Kinder von Eltern, die extrem arm sind und einen niedrigen Bildungsstand haben“, sagt Cathrin Schauer. „Manche sind geradezu naiv und erfreut, wenn sich ein Deutscher um ihre Kinder kümmert, mit ihnen eine Spazierfahrt unternimmt und ihnen Geschenke macht.“

Die Eltern wussten angeblich von nichts

Auch Mireks Eltern wussten angeblich nicht, was der Sohn tagsüber treibt. „Es war sein Onkel, der ihn seit seinem achten Lebensjahr hat anschaffen lassen“, sagt Cathrin Schauer. Mirek selbst erzählt davon nichts. Es sei typisch für Missbrauchsopfer, dass sie ihre Familien schützen wollten. Aber genau das mache es so schwer, die Täter zu fassen, bestätigt Beate Weiß vom Polizeipräsidium Oberfranken. „Wir sind sehr interessiert daran, den sexuellen Missbrauch an Kindern aufzuklären, aber ohne belastbare Zeugenaussagen können wir nicht eingreifen“, erklärt sie. „Und obwohl der Missbrauch von Kindern durch Deutsche auch im Ausland strafbar ist, sind uns leider die Hände gebunden, sobald die Tat im Ausland passiert“, bedauert Weiß.

Die tschechischen Beamten stehen vor einem ähnlichen Dilemma. Pavla Kopecka, Sprecherin der tschechischen Polizei in Prag erklärt: „Wenn wir nicht genügend Beweise haben, um ein Strafverfahren oder eine strafrechtliche Verfolgung einzuleiten, ist es uns nicht möglich, gegen deutsche Bürger vorzugehen.“ Noch immer fehlen ausreichend bilaterale oder multilaterale Vereinbarungen mit Nachbarländern, die es erlauben, grenzüberschreitend die Opfer zu schützen und die Täter zu verfolgen.

So haben die sächsische und die tschechische Polizei in der Vergangenheit über Kinderprostitution gesprochen. Aber „aktuell gibt es – zumindest von Seiten des LKA Sachsen – keine einschlägigen Unternehmungen“, so Tom Bernhardt vom sächsischen Landeskriminalamt. Dem Tatortprinzip folgend, müssten Anfragen an die tschechische Polizei gestellt werden. Bernhardt resümiert: „Zum Glück ist Kinderprostitution in Sachsen kein Thema von entsprechender Bedeutung!“ Es sind die Sex-Touristen, die aus Deutschland kommen. Der Missbrauch geschieht in Tschechien.

Viele Opfer einfach in Heime verfrachtet

Mirek versteht nicht, warum dafür niemand verurteilt werden kann. „Eigentlich müsste die deutsche Polizei die Pädophilen doch auf Schritt und Tritt verfolgen, wenn die hierher fahren“, sagt er empört. Wie viele andere der Missbrauchten fürchtet er sich vor Ausgrenzung. Die aber, fange oft schon bei der Polizei an, sagt die Chefin der Kinderrechtsorganisation Ecpat Deutschland, Mechtild Maurer: „In der Vergangenheit sind die Opfer aus Sicht der sächsischen und tschechischen Strafverfolgungsbehörden immer auch ein Teil der kriminellen Tat gewesen, und es fehlte an mangelnder Sensibilität im Umgang mit den schutzbedürftigen Kindern.“ So seien viele einfach abgeschoben oder in Heime verfrachtet worden. Maurer fordert deshalb: „Sexuelle Missbrauchsopfer dürfen nicht als Kriminelle angesehen werden, sondern brauchen unsere Hilfe.“

Dass viele Opfer und von Kinderprostitution bedrohte Minderjährige keine angemessene Unterstützung erhalten, hat in Tschechien auch gesellschaftliche Gründe: Jolanka, Petra und Mirek sind Roma, und deren Lage in Tschechien ist prekär. Sie gelten als die am stärksten diskriminierte Minderheit in Europa, ihr Leben findet meist in einer Parallelgesellschaft statt.

Das wissen auch die Drei. Jolanka wird nach den Sommerferien die Grundschule verlassen, nach der achten Klasse. Und dann? Das Mädchen hat die von langen Wimpern umsäumten Augen gesenkt. Sie weiß es nicht. Und wenn sie sich einen Beruf aussuchen könnte, egal welchen? „Frisörin, weil ich meine Schwester so gerne kämme.“

Auch Petra ist desillusioniert und bescheiden, wenn es um ihre Zukunft geht. Die 17-Jährige würde gerne Zimmermädchen sein. Die Schule hat sie bereits hinter sich, um einen Berufsschulplatz hat sie sich gar nicht erst beworben. „Weil die gleich sehen, dass ich eine Roma bin. Die interessiert doch eh nur, ob man schwarz ist oder weiß.“ Bis zum Sommer wollen die Eltern Petra noch unterstützen, dann wird sie 18 und soll selbst für ihren Lebensunterhalt sorgen.

Mireks Zukunft ist ebenfalls nicht rosig: Er hat sich durch ungeschützten Verkehr mit Hepatitis infiziert. Beschwerdefrei ist er nie. Nur mit Hilfe von Medikamenten kann er die Schmerzen ertragen. Dank Spenden konnte er auch schon in Deutschland behandelt werden – komplette Heilung ausgeschlossen.

* Namen geändert


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