Schwarzmarkt der Superlative
Es ist ihre 12. Runde, vielleicht auch schon die 17. Swetlana Iwanowa hat längst aufgehört zu zählen. Die ersten Tage, da sei es noch anders gewesen. Aber jetzt, nach 14 Jahren? Laufen, halten, laufen – das ist der Arbeitsablauf der Mittsechzigerin, sechs Tage die Woche, von 5 Uhr in der Früh bis spät in den Nachmittag hinein. Hier auf dem Markt „7. Kilometer“, sieben Kilometer vor den Toren Odessas, verkauft Swetlana Iwanowa Tee, Kaffee und Saft, vor allem an die Verkäufer auf dem größten Markt unter freiem Himmel in Europa.
Die Fußball-EM beflügelt das Treiben am Schwarzen Meer, Taschen, Tassen, T-Shirts, auch Hüte und Handtücher mit dem EM-Logo finden sich hier zuhauf, „fast original“, wie die Verkäufer schmunzelnd sagen. Wenn sie denn was sagen. Das riesige Areal gilt als Umschlagplatz für Produktpiraten und Schmuggler. Die Marktverwaltung dementiert, die Miliz redet gar nicht, und Swetlana Iwanowa ist froh um jeden verkauften Plastikbecher Tee.
Der „7. Kilometer“ ist ein Markt der Superlative. So groß wie mehr als 100 Fußballfelder, 60.000 Arbeitsplätze, 10.000 Parkplätze, 200.000 Kunden täglich, 20 Millionen Euro Umsatz im Jahr. Eine eigene Feuerwehr und eine Milizwache sind genauso da wie eine Bank, zwei Hotels und mehrere Schnellrestaurants. Auf klapprigen Tischen oder alten Holzkisten breiten Tausende von Kleinhändlern ihre Ware aus, Bleistifte wie Unterwäsche, Töpfe wie Spaten. Die meisten aber verkaufen ihre Produkte in ausrangierten Schiffscontainern, die einst im Hafen der Stadt ihren Dienst taten. Es sind regelrechte Containerblöcke, in blau, grün, rosa, grau oder lila, die den Gang durch die engen Gassen dazwischen erleichtern. Vermeintliche Adidas-Schuhe kosten hier umgerechnet 15 Euro, angebliches Chanel-Parfüm etwa zwei Euro.
Swetlana Iwanowa biegt um die Ecke, ihr Wägelchen quietscht, die Teebeutel springen in den Schachteln, sie richtet noch schnell die Plastiklöffeln, schiebt wieder an. „Grüntee, wie immer?“, ruft sie in einen Container hinein. Sie hat eine bestimmte Route, die sie winters wie sommers abläuft – und so ihre ständigen Kunden. In einem Block verzeichnet sie die verkauften Getränke, nach eigenem System, und sammelt am Ende des Tages das Geld ein, die Preise hat sie mit jedem Einzelnen ausgemacht. „Mich betrügt hier keiner“, sagt sie.
Kriminalität aber gehört zu diesem Markt wie der Markt zu Odessa. Ukrainische Internetmedien schreiben von beschlagnahmten Handcremes, von illegalen Importen, von Geldwäsche, nur sprechen will darüber niemand. Manchmal wissen die Verkäufer nicht einmal, für wen sie arbeiten. „Ich habe eine Annonce für eine Verkäufer-Stelle in der Zeitung gelesen und kam vor zehn Jahren hierher, meine Vorgesetzte zahlt mir jeden Monat das Geld, das reicht mir“, sagt Irina, noch bevor ihre Vorgesetze sie zum Auspacken hinten im Container verdonnert. Woher die Produkte kommen, sagt auch niemand, solche Fragen stören nur das Geschäft. Die Marktverwaltung teilt nur mit, auf dem Markt laufe alles mit rechten Dingen zu.
Das Areal ist klar unterteilt, es gibt die afrikanische Straße – vor allem für Schuhe, die chinesische für Spielzeug, die vietnamesische für Kleider oder die slawische – für dieses und jenes. Zwei Container sind stets aufeinandergestapelt, oben lagert die Ware, unten sind improvisierte Lädchen eingerichtet. 300 Dollar verlangt die Marktverwaltung für jeden Container im Monat, ein Laden kostet 1.000 Dollar. Für die Ukrainer lohnt sich das Modell, die meisten arbeiten seit Jahren in dem Gewusel. Nur am Freitag ruht das Geschäft. Die Gassen zwischen den bunten Containern verwandeln sich in eine Geisterstadt. Dann verbringt Swetlana Iwanowa Zeit mit ihren Enkeln. Das Spielzeug für sie hat sie vom „7. Kilometer“.