Lettland

Cha-Cha-Cha mit Sowjet-Drill

Es ist warm, draußen scheint die Sonne, es ist Samstag. Im Gymnasium von Sigulda herrscht dennoch Hochbetrieb: Der Tanzwettbewerb beginnt. Die Kleinstadt liegt im Nordosten Lettlands, eine gute Autostunde von der Hauptstadt Riga entfernt. Ihr grünes Seidenkleid über dem Arm wirft die elfjährige Sascha rasch einen Blick auf jene Kinder, die auf ihren Fahrrädern über den Schulhof rasen. Die blonde Sascha lacht, schubst ihren Tanzpartner Igor an und jagt ihn die Schultreppe hoch. Aber unter dem strengen Blick ihrer Mütter findet diese Verfolgungsjagd sofort ein jähes Ende: Denn in wenigen Minuten treten die beiden gegen zwanzig weitere Kinderpaare aus Lettland an. „Wir wollen siegen und den ersten Platz bekommen“, strahlen die beiden auf dem Weg in die Umkleidekabine. „Oder zumindest unter die ersten Sechs, dann gibt’s immerhin einen Pokal.“



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Standardtanz zählt zu den beliebtesten Sportarten in Lettland. Allein in der Hauptstadt Riga trainieren mehr als 50 Klubs die Kleinen bereits im Kindergarten. Auch Sascha und Igor haben vor sechs Jahren die ersten Schritte vom Walzer, Foxtrott oder Cha-Cha-Cha gelernt.

Diese semiprofessionellen Nachmittagsschulen sind ein Erbe der Sowjetzeit, erklärt die Pädagogin Aija Tuna. Seit Lettlands Unabhängigkeit vor 21 Jahren versucht sie die Unterrichtsmethoden im Lande zu reformieren. Nicht nur Tänzer, auch Sportler, Musiker und bildende Künstler werden in außerschulischen Einrichtungen ausgebildet. „Für die Kinder bedeuten sie eine zusätzliche Belastung, weil es in diesen Schulen vor allem um Wettbewerb geht“, sagt Aija Tuna. „Wir haben es hier mit einer russischen Pädagogik zu tun, die immer zielorientiert gewesen ist. Dabei geht es weniger um die Freude am Tanzen, als vielmehr um das Ergebnis, den Sieg.“ Sie wünscht sich dagegen eine Pädagogik, die mehr Wert auf das Erlernen sozialer Fähigkeiten legt, die sich am Wunsch des Kindes orientiert: „Die Schüler sollen Freude haben, an dem was sie tun, anstatt für den nächsten Sieg zu trainieren.“

„Kinder ohne Kindheit“, lachen die Mütter von Sascha und Igor. Diesen Satz hätten sie nur zu oft gehört. „Aber wir verstehen ihn als Scherz“, sagt Igors Mutter Tatjana. Selbstverständlich hätten Sascha und Igor eine Kindheit, nur eine andere. Während sie selbst früher an den Nachmittagen mit ihren Freunden herumgestromert sei, hätten ihr Sohn und seine Tanzpartnerin jetzt ein Ziel. „Sie sind sehr organisiert. Und lernen bereits in frühen Jahren, Verantwortung zu übernehmen und zu arbeiten. Das ist gut für unsere Kinder. Es wird ihnen als Erwachsene helfen.“

Die beiden Mütter Tatjana und Natascha verstehen sich als Vertreter einer neuen Mittelschicht in Lettland. Sie sind zwar noch von Sowjettraditionen geprägt, wollen aber die Wünsche ihrer Kinder ernst nehmen und sie auf die Herausforderungen der Zukunft vorbereiten. Sie selbst habe als Kind von einer Karriere als Tänzerin geträumt, fügt Saschas Mutter Natascha hinzu. „Meine Eltern haben es mir nicht erlaubt. Diesen Fehler will ich nicht wiederholen. Auch wenn der Sport unserer ganzen Familie eine straffe Organisation abverlangt.“

Neben der Schule müssen die Kinder vier Mal in der Woche zum Training. Zwei bis drei Stunden lang. Zusätzlich nehmen Sascha und Igor samstags oder sonntags an Wettbewerben teil. Manchmal sei er ganz schön erschöpft, verrät Igor, während seine Mutter die Startnummer an seinem weißen Oberhemd befestigt. Sein Haar ist frisch rasiert und mit Gel wie an den Kopf geklebt, damit es in der Formation die Körperhaltung unterstützt und nicht hin und her fliegt. Seine Partnerin Sascha nickt zustimmend, während sie ihre Tanzschuhe schnürt. Sie muss in ihrer Altersgruppe E 4 das Haar hochgesteckt zu einem Knoten tragen, die kürzeren Strähnen hat ihre Mutter mit viel Gel und Lack zu kleinen Schnecken gelegt. Erst später, bei den Jugendlichen, seien lange Haare erlaubt.

„Manchmal möchte ich alles hinschmeißen“, sagt Sascha. „Dabei tanze ich so gerne. Aber wenn ich keine Zeit mehr für meine Freundinnen habe oder wenn es Ärger in der Schule gibt, dann werfe ich meine Schuhe schon mal vor Wut in die Ecke.“ In solchen Momenten greift Saschas Mutter ein und führt die Tochter zu jener Ecke im Wohnzimmer, wo neben zahlreichen Medaillen ebenso viele Pokale stehen. Und kaum erinnere sie jene Glücksgefühle, die jeder Erfolg bei ihr ausgelöst habe, verrät die elfjährige Tänzerin, dann besinne sie sich wieder, atme tief durch und peile das nächste Turnier an.

Mittlerweile gehört Sascha zu den zukünftigen Profis und ist froh, wenn sie bei einem Wettkampf wie heute in Sigulda mit Igor überhaupt das Finale erreicht. Noch ein paar letzte Übungsschritte und schon tanzen die beiden mit der Startnummer Sieben los. Beim ersten Walzerklang wirbeln die 21 Juniorpaare gegeneinander um die Wette.

Sogar in ihrer Heimatstadt Riga sind Sascha und Igor als tanzendes Schülerpaar bekannt. Denn sie besuchen dieselbe Mittelschule und drücken gemeinsam die Schulbank der 4a. Ihr Tanzclub ist sogar unter dem Dach der Schule untergebracht. Deshalb geben die beiden auf jedem kleinen oder großen Schulfest eine Kostprobe ihres Könnens. Den schulischen Leistungen komme das Tanzen zu Gute, meint die Klassenlehrerin Jewgenija Antonowna. Sie hat schon viele tanzende Schüler unterrichtet, die nach dem Abitur entweder als Profitänzer oder Trainer, als Ärzte, Juristen oder Ingenieure Karriere gemacht hätten. „Alle Schüler, die neben der Schule noch Leistungssport treiben oder Instrumente lernen, haben sich besser unter Kontrolle. Sie leben zielbewusster als andere, sie auf der Strasse herumhängen und auf dumme Gedanken kommen.“

In der Klasse sind Sascha und Igor beliebt, aber keine Ausnahme. „Ich finde es toll, dass sie ihre Talente entdeckt haben“, sagt der elfjährige Mischa, der jeden zweiten Nachmittag zum Geigenunterricht geht. Schwimmen, Klavier oder Cellospielen und Schach, so lauten die Nachmittagsbeschäftigungen von Saschas und Igors Klassenkameraden. „Wir möchten in Zukunft all diese Fächer zusätzlich am Nachmittag in den Schulen anbieten“, erklärt die Pädagogin Aija Tuna. Es sei ein großes Geschenk, wenn jedes Kind die Möglichkeit habe, seine verborgenen Talente zu entdecken. „Aber ohne Leistungsdruck und ohne Stress.“

Die beiden Tänzer Sascha und Igor können sich ein Gähnen nicht verkneifen, wenn sie nach dem Unterricht zwei Etagen höher zum Tanztraining gehen. Talent und eine gute Figur seien zwar wichtige Vorraussetzungen für eine Karriere, erklärt ihre Trainerin Valentina Garolidowna. Das A und O aber sei die Kontrolle des eigenen Körpers, die jeder Tänzer nur durch harte Arbeit erhält. Valentina weiß, wovon sie spricht. Als Lettland noch Sowjetrepublik war, hat sie mit ihrem Mann die sowjetische Meisterschaft im latein-amerikanischen Tanz gewonnen und nach Lettlands Unabhängigkeit die eigene Tanzschule aufgebaut. Anders als in Westeuropa starten die Tänzer in Lettland zwar bereits mit vier Jahren, steigen aber häufig früher aus, klagt Valentina. „Heikel wird es, wenn Kinder wie Igor und Sascha 15, 16 Jahre alt werden. Im Westen beginnen sie in dem Alter erst zu tanzen, bei uns verlieren viele die Lust, und suchen sich etwas anderes: Fußball, Schwimmen oder Schach. Und wir verlieren unsere Talente.“

Dieser befürchtete Einbruch bei den Jugendlichen lässt sich auch im Wettbewerb von Sigulda beobachten: Treten Sascha und Igor noch gegen 21 Tanzpaare ihrer Altersgruppe an, kämpfen bei den 14- bis 18-Jährigen nur noch drei um den ersten Platz. Der Lette Sergejis Mareks ist 17 und mit seiner Partnerin vier Stunden lang aus der Hafenstadt Liepaja angereist. Er wolle nie aufhören, zu tanzen, schwärmt Sergejs. Aber für ein weiteres Fortkommen fehle im einfach das Geld. „Bis jetzt kostet mich das Tanzen monatlich 150 Euro. Meine Eltern schießen was zu und ich jobbe nebenbei in einer Autowerkstatt. Um aber ganz oben mitzumischen müsste ich noch mehr Trainerstunden nehmen und zu Wettkämpfen ins Ausland.“ Auch den Eltern von Igor und Sascha fehlt für teure Auslandstrips das Geld. „Unsere Kinder sollen sich erst einmal zu Hause beweisen“, sagen die beiden Mütter. „Mehr als ein Kurztrip wie heute plus Teilnahmegebühren ist bei uns nicht drin.“

Aber wer weiß, wie sich die Beiden weiter entwickeln? Sollten sie sich tatsächlich unter die Besten in Lettland tanzen, dann können die Mütter auch Zuschüsse vom Kultusministerium erwarten: Für Wettbewerbe in Europa oder gar Amerika. Denn Tatjana und Natascha genießen es, an der Seite ihrer Kinder in die unbekannte Welt des Glamour und Glitter hineinzuschnuppern.

Nach dem letzten Quickstep nehmen die beiden Mütter ihre hochrot verschwitzen Kinder in Empfang. Eltern und Trainerin strahlen, weil Igor und Sascha zum ersten Mal völlig stimmig über das Parkett gerauscht sind. Aufgeregt erwarten sie den Einzug ins Halbfinale. Umso größer ist die Enttäuschung als die Punktrichter verkünden, dass es für Sascha und Igor nicht mehr weiter geht. Die zierliche Sascha legt einen Arm um ihren Partner: „Es ist doch nicht das erste Mal, dass wir in der ersten Runde ausscheiden. Wir müssen weiter an uns arbeiten, damit wir beim nächsten Mal siegen werden.“


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