Scheinheilig
Juri Luzenko? Nie gehört. Valeri Iwaschtschenko? Auch nicht. Genauso wenig wie Jewgeni Kornijtschuk und Georgi Filiptschuk. Kompliziert aber auch, diese Namen, und so unbekannt. Doch wir entdecken nun die Ukraine, ganz plötzlich und mit aller Wucht. Vor allem die Menschenrechtssituation dort. Stimmt, die gibt es auch. Soll sie nicht ganz mies sein? Darüber müssen wir reden, jetzt, sofort und alle zusammen.
Dass Politik und Sportfunktionäre das Interesse für die Ukraine und die Verfehlungen der autoritären Führungsriege um den Präsidenten Viktor Janukowitsch entdecken, so kurz, bevor der Ball und der Rubel rollen, ist sicher richtig und schön. Die hitzigen Debatten aber wirken, mit Verlaub, scheinheilig und verlogen.
All das, was heute so voller Hingabe von Friedrich, Hoeneß & Co. kritisiert wird, gibt es nicht erst, seit die ehemalige Ministerpräsidentin Julia Timoschenko Gefängnis-Folter ausgesetzt ist – zumal sie nicht die einzige politische Gefangene des Landes ist, der das wiederfährt. Sie ist einfach nur die bekannteste.
Die Willkür, das Unrecht, die Korruption, maßlos und undurchsichtig, sie halten das Land seit Jahren im Griff. Parteien sind von Polittechnologen erstellte Wirtschaftsprojekte und existieren so lange, bis dem Geldgeber die Lust ausgeht. Die Macht der Stahlbarone und Ölprinzen ist bis heute nicht zerschlagen, sondern wächst seit Janukowitschs Amtsantritt vor zwei Jahren noch weiter. Die Politiker bekriegen sich, Richter sind willfährige Helfer der Führungsspitze, die Pressefreiheit wird nach und nach ausgehöhlt.
Und die Bürger? Viele haben sich längst abgewendet, haben das Vertrauen in die Politik verloren, sind enttäuscht von den Menschen, für die sie vor Jahren noch auf die Straße gegangen sind, auch von Julia Timoschenko. Ihre Zustimmungswerte sind mit rund 20 Prozent nur etwas höher als die von Janukowitsch.
Das Rad, das sich Richtung Europa drehte, Richtung demokratischen Wandels, den eben dieses Europa so herzlich begrüßte und auch die Uefa dazu brachte, die EM neben Polen an die Ukraine zu vergeben, das dreht sich seit Februar 2010 wieder zurück, hin zum autoritären Staat. Nur: Interessiert hat das bislang herzlich wenig. Berlin und Brüssel haben ihr Interesse an der Ukraine spätestens dann verloren, als ihnen klar wurde, dass die Hoffnungsträger Timoschenko und Juschtschenko sich lieber einen politischen Rosenkrieg lieferten als sich um Recht und Gesetz zu kümmern. Also überließen sich die Ukraine dem „Einflussbereich Moskaus“ und ließen sie einen europäischen Dornröschenschlaf schlafen. Nur hin und wieder, wenn ein Prozess gegen Timoschenko anstand, schon weniger gegen Luzenko oder Kornijtschuk, meldeten sie sich verhalten zu Wort. Wie es auch stets mit Belarus geschieht, dem man das Etikett die „letzte Diktatur Europas“ anhaftet und wohl erst wieder ein Tohuwabohu veranstalten wird, wenn die Eishockey-Weltmeisterschaft in zwei Jahren vor der Tür steht. Ein plötzliches Aufwecken aus dem Dornröschenschlag aber ist nicht möglich.
Es geht nicht um einmaliges Hochköcheln der Probleme, nicht um das Jagen einer Sau durchs Dorf, bis die nächste kommt. Es geht um ständige Beobachtung, um Ermahnen und Positionieren und Fordern, nicht erst vor einem Großereignis. Denn was passiert, wenn dieses Großereignis vorbei ist? Vergessen wir die Ukraine wieder?