Die Sehnsucht nach der Revolution
Der junge Mann trägt eine Sportkappe in Schwarz-Rot-Gold. „Deutschland“ prangt als Schriftzug auf der Stirn. Darunter umschließt ein Verband den gebrochenen Kiefer. Das Sprechen fällt dem bulligen Ukrainer schwer. „Ich mag den deutschen Fußball“, brummt er. Die deutsche Regierung mag er nicht. „Sie unterstützen Julia Timoschenko, eine Verbrecherin.“
Die inhaftierte Oppositionsführerin liegt wenige hundert Meter entfernt im Eisenbahner-Krankenhaus von Charkiw, vor dessen Notaufnahme der verletzte junge Mann wartet. Sein T-Shirt trägt die Aufschrift „Für Janukowitsch“. Er ist ein Anhänger des Präsidenten.
Viktor Janukowitsch hat seine politische Erzfeindin durch eine willfährige Justiz zu sieben Jahren Haft verurteilen lassen. Und weil die proeuropäische Timoschenko ihre Anhänger im Westen des Landes hat, sperrte die Staatsmacht sie in Charkiw ein, tief im Osten an der Grenze zu Russland. Die EU spricht von politisch motivierter Rachejustiz. Inzwischen behandelt ein deutscher Arzt Timoschenko im Eisenbahner-Krankenhaus.
In diesen Tagen finden drei Vorrundenspiele der Fußball-EM in Charkiw statt. Am 13. Juni trifft Deutschland im Stadion des heimischen Spitzenclubs FK Metalist auf die Niederlande. Doch vom Stadion zum Krankenhaus ist es nicht weit, und so ist die EM-Stadt Charkiw ohne eigenes Zutun zu einem unerwünschten Ziel geworden. Der Deutsche Fußball-Bund will sich bei dem Gastspiel in der Ostukraine auf ein Minimum an Kontakten beschränken. Dass deutsche Regierungsvertreter anreisen, ist unwahrscheinlich.
Auch die meisten Fans aus dem Westen werden wohl nur zu den Spielen einfliegen und schnell wieder verschwinden. Dabei steht der Fußball in Charkiw hoch im Kurs. Zwischen Fabrikruinen und verfallenen Wohnblocks kicken Straßenfußballer auf kargen Bolzplätzen. Sie unterbrechen das Spiel nur kurz, um ihren Müttern bei der Arbeit zu helfen, etwa wenn zwischen den Plattenbauten Tanklaster halten. Sie beliefern die Bewohner mit Trinkwasser, weil das Leitungssystem marode und das Wasser aus dem Hahn giftig ist.
An Fußballschlachten auf den Bolzplätzen von Charkiw erinnert sich auch Serhij Zhadan noch gut: „Als sowjetische Jungpioniere gingen wir erst nach Hause, wenn es dunkel wurde und der Ball in der Dämmerung verschwamm.“ Der 37-jährige Schriftsteller mit dem Lausbubengesicht liebt den Sport noch immer. Zhadan ist eine Institution in Charkiw, und er ist ein eingefleischter Metalist-Anhänger. Aber er freut sich auch an der EM. „Bei uns wollen Hotelbesitzer, Taxifahrer und Geschäftemacher aller Art das große Geld verdienen“, sagt der Dichter. „Mich nervt das. Ich will den Fußball sehen.“
Zum Gespräch verabredet sich Zhadan am liebsten in dem Kellercafé Dukat in der Straße des roten Banners, nicht weit vom zentralen Freiheitsplatz entfernt. Dort hat die Stadt ihre Fanmeile eingerichtet. Das Kellercafé bietet ein wenig Schutz vor dem Trubel der Millionenmetropole, die trotz der sowjetnostalgischen Straßen- und Stadtviertelnamen nach dem Pulsschlag des Kapitalismus lebt. „Hier verändert sich alles rasant“, sagt Zhadan. Er ist in der Region aufgewachsen und in Charkiw zu Hause. Mit seinen Erzählungen über das anarchische Leben in der postsowjetischen Ukraine ist er zur Ikone einer neuen Generation geworden. „Wir leben in einer vorrevolutionären Situation“, erklärt er.
Zhadans Bücher sind auf Papier gebannte Roadmovies. In seinem Charkiw-Roman „Depeche Mode“ machen sich drei Jugendliche in den verfallenen Industrievierteln der Stadt auf eine ins Wahnhafte gesteigerte Suche nach einem Freund. Die Handlung spielt allerdings in den frühen 90erJahren. Seine Hoffnungen setzt der Dichter auf die heute 20- bis 25-Jährigen. „Sie können mit dem Postkommunismus ebenso wenig anfangen wie mit der Konfrontation aus der Zeit der Orangenen Revolution von 2004“, erklärt Zhadan.
An der Staatsspitze ist das anders. Präsident Janukowitsch denkt weiter in den überkommenen Ost-West-Kategorien. Charkiw, das die Einheimischen meist russisch Charkow nennen, zählt er zu den Hochburgen seiner prorussischen Partei der Regionen. Die Ausrichtung auf Moskau hat hier Tradition. Nach dem Ersten Weltkrieg war Charkiw die Hauptstadt der im Kreml ausgerufenen Ukrainischen Sowjetrepublik. Im Westen des Landes kämpften die Menschen damals für ihre Unabhängigkeit. Es ist deshalb kein Zufall, dass Timoschenko in Charkiw einsitzt.
Dennoch könnte sich Janukowitsch verrechnet haben. „Für den Präsidenten und seine Clique wird die Luft auch hier immer dünner“, erklärt Zhadan. „2004 kamen die orangen Revolutionäre vom Westen nach Kiew. Die nächste Revolution in der Ukraine geht vom Osten aus“, prophezeit der Schriftsteller und fügt hinzu: „Die Menschen sehnen sich nach echter Veränderung. Ob Timoschenko oder Janukowitsch, das ist ihnen fast egal. Die gesamte politische Klasse hat sich disqualifiziert.“
Dabei ist die Lage in der EM-Stadt Charkiw mit ihrem nagelneuen Flughafen, der Rüstungs-, Elektro- und Chemieindustrie sowie den 42 Universitäten und Hochschulen noch vergleichsweise gut. Aber eben nur relativ gesehen. Seit der Weltfinanzkrise von 2009 geht es in der Ukraine wirtschaftlich steil bergab. Im vergangenen Herbst kürzte die Regierung die Renten und die Sozialhilfen für Invaliden. Tausende Alte und Kranke gingen damals auf die Straße oder traten in Hungerstreiks – auch im Osten des Landes.
Die Trinkwasserlaster und die müden Blicke der Mütter draußen in den Plattenbausiedlungen sind der beste Beleg für Zhadans Thesen. Für die Jungs allerdings zählt noch immer nur der Fußball. Auf den Bolzplätzen tragen sie Trikots der ukrainischen Nationalmannschaft. Wer wird Europameister? „Naschi“, schallt es sofort zurück. „Unsere!“ Der zwölfjährige Sascha kommt kurz an den Spielfeldrand gelaufen und will wissen, woher der fremde Fragesteller stammt. „Deutschland, na gut. Dann gewinnen wir 2:1 im Finale gegen Deutschland“, sagt er und grinst. Vor der tristen Häuserkulisse klingt der Endspieltipp nach einer Hoffnung, hinter der sich mehr verbirgt als nur der Traum vom Sieg. Es ist die Sehnsucht nach einer besseren Zukunft.
Charkiw kompakt:
1,5 Millionen Menschen leben in Charkiw (russisch: Charkow), der zweitgrößten Stadt der Ukraine. Gegründet hat den Ort der russische Zar Alexei I. 1654, in jenem Jahr, als der Moskauer Monarch die aufständischen ukrainischen Kosaken unterwarf. In dem Spannungsfeld zwischen russischer Herrschaft und ukrainischem Freiheitsdrang behielt in Charkiw meist die Moskauer Macht die Oberhand – nicht immer zum Nachteil der Bevölkerung. 1805 gründete Zar Alexander I. hier die älteste Universität der Ukraine. Die Sowjets entwickelten Charkiw zur Wirtschaftsmetropole, in der vor allem Traktoren und Panzer gebaut wurden. Heute gilt Charkiw trotz seiner weiterhin starken Industriestruktur als liberale Universitätsstadt und intellektuelles Zentrum der Ostukraine. Besucher sollten sich den riesigen Freiheitsplatz anschauen und anschließend zum Kontrast durch die gemütliche Café- und Einkaufsstraße Puschkinska bummeln.
Das EM-Stadion ist Liga-Spielstätte des ukrainischen Spitzenclubs FK Metalist Charkiw. Die Arena fasst knapp 40.000 Zuschauer und ist Austragungsort von drei Vorrundenspielen der Gruppe B (Niederlande- Dänemark, Niederlande- Deutschland, Portugal-Niederlande). Die Anhänger der holländischen Mannschaft wollen Charkiw mit ihrer berühmten Fankarawane ansteuern und dort ein Oranje-Camp errichten.