Wem gehört die Suppe?
Im „Pusata Hata“ haben sie sich hübsch gemacht. Eine weiße Mütze auf den Kopf gesetzt, eine Schürze umgebunden, jede mit Stickereien in traditioneller ukrainischer Form versehen. Schnell wollen sie in diesem Restaurant in Charkiw sein – und „typisch ukrainisch“. Olena, die junge Bedienung, hält die Schöpfkelle schon bereit. „Okroschka“ steht in roten Buchstaben vor dem braunen Topf vor ihr. „Okroschetschka“, preist Olena an, es klingt sanft, fast zauberhaft. „Unsere traditionelle Suppe für den Sommer.“ Okroschka – eine ukrainische Speise? Die Russen waren es doch, die sie in die Küchen brachten, sagen die Russen. Nein, die Ukrainer, behaupten die Ukrainer. Und schon haben wir den Salat. Ach nein, natürlich das Süppchen.
Es ist wie so oft zwischen Russen und Ukrainern, sie wissen ganz genau, was sie verbindet, was sie trennt – und sie wissen es wiederum nicht. Sie sind sich so ähnlich, und doch sucht jeder das Eigene, das Trennende in diesem Flickenteppich der Geschichte. Die Wiege der Zivilisation, so sagen die Ukrainer, steht in Kiew. Da würden auch Russen niemals widersprechen. In der Kiewer Rus sehen sie die Anfänge des ersten russischen Reiches durch die Waräger. Die Ukrainer kommen darin lediglich als Kleinrussen vor, wenn überhaupt.
Bis heute sind den Russen ihre Nachbarn im Westen etwas suspekt. Die Ukrainer waren noch nie ein ethnisch homogenes Volk, auch das Gebiet, das sich heute Ukraine nennt, ist historisch nicht gefestigt. Selbst der Name des Landes heißt Randgebiet. Mal verschoben die Hohenzollern, mal die Habsburger, mal die Romanows in diesem Raum die Grenzen. Selbst über die ukrainische Sprache streitet sich das Land bis heute. Ist sie nun etwas Eigenes oder doch nur ein Dialekt des Russischen? Fast so geht es auch in der Küche zu.
Immerhin bei den Zutaten für die Okroschka sind sich beide Völker einig. Radieschen, gekochte Eier und Kartoffeln, Wurst, Frühlingszwiebeln, Gurken werden kleingeschnitten, „gekrümelt“ sozusagen. Daher auch der Name der Suppe (vom russischen Wort „kroschit‘ für krümeln). Das Ganze wird mit kaltem Kwas, dem typischen russischen – oder doch vielleicht ukrainischen? – Brotgetränk, übergossen, gewürzt, und fertig ist die Sommersuppe, zu der stets der obligatorische Löffel Schmand gehört. Für westeuropäische Geschmacksnerven ist die vergärte Kwas-Mischung aus Wasser, Roggen und Malz gewöhnungsbedürftig und doch stets erfrischend.
Die erste Okroschka-Erwähnung findet sich in einem Kochbuch aus dem Jahr 1901 – in St. Petersburg erschienen, von einer Ukrainerin verfasst. Entstanden ist die Suppe wohl auf Wolga-Schiffen. In der Mittagshitze sollen die Arbeiter Kwas und den Trockenfisch Plötze vorgesetzt bekommen haben. Da aber einige von ihnen schlechte Zähne hatten, ließen sie den Fisch im Brotgetränk schwimmen, denn er war so besser zu kauen. Später kam allerlei Gemüse hinzu, und der Fisch wich der Wurst.
Die Wolga also, der russischste aller russischen Flüsse. Auf den Schiffen aber seien auch Ukrainer mitgefahren, erzählen die Ukrainer, wer weiß, wer den ersten Fisch in den Kwas gesteckt hatte. Heute schmeckt die Okroschka beiden – den Russen und den Ukrainern. Gleichermaßen wunderbar!