Von Vorfreude bis Wut
Das gelbe Nationaltrikot wallt um Neptuns Schultern. Mit Gottvertrauen startet das westukrainische Lemberg in die Euro 2012. „Wir werden gemeinsam Geschichte schreiben“, sagt die 22-jährige Irina und zitiert das UEFA-Motto. Die junge Frau arbeitet als EM-Helferin. Sie steht an der Neptun-Statue auf dem mittelalterlichen Marktplatz. Fans haben den Herrscher über das Wasser bereits in einen Fußball-Gott verwandelt.
Lemberg ist in Feierlaune. Deutschen und Portugiesen, die hier am Sonnabend ihr erstes Spiel austragen, schwappt Vorfreude entgegen. Die gut gefüllten Biergärten in der Altstadt haben sich längst für die EM-Fete gerüstet. Auch in Kiew ist alles bereit. Auf dem Prachtboulevard Kreschtschatik, der ab Freitag zur Fanmeile wird, tummeln sich Musiker und Schausteller und bitten zum Tanz.
Wenn die Eindrücke nicht trügen, könnte die zuletzt so oft gescholtene Ukraine zur fröhlichen Party-Zentrale der Euro 2012 werden. In Charkiw, wo die niederländische Nationalmannschaft am Sonnabend den ukrainischen EM-Teil gegen Dänemark eröffnet, macht Oranje mobil. Neun Trucks mit Großzelten sind eingetroffen. „Wir bauen gerade alles auf“, berichtet Wieke de Vries, die das Oranjecamp mit organisiert. 1.200 Holländer ziehen dort ein.
Die Vorfreude steigt, doch auch die Wut wächst. Viele Ukrainer sind sauer auf die eigene Regierung, weil sie Jagd auf die Opposition macht und damit den Westen verprellt. Doch der Zorn gilt auch ausländischen Medien, die angeblich ein falsches Bild des Landes zeichnen. Zuletzt hatte die britische BBC eine Reportage über rassistische Fans in Donezk gezeigt. „Das war eine Provokation. Sie haben mit versteckten Kameras und gestellten Szenen gearbeitet“, sagt Anzor Domuzashvili, ein junger Journalist aus dem östlichsten Spielort.
1.800 Kilometer weiter westlich, in Posen, sind die Gastgeber ebenfalls unzufrieden mit der Wahrnehmung im Ausland. In einem Rundblick „Wie uns westliche Medien darstellen“ breitet die Regionalzeitung „Glos Wielkopolski“ all die Vorurteile aus, die es bei den EU-Nachbarn gebe. Die Iren, die in Posen spielen, hätten es vor allem auf die „leicht zu erobernden polnischen Frauen abgesehen“.
In Breslau dagegen kommt alles Unheil aus dem Osten. „Reiche russische Fans entscheiden sich oft von einem Tag auf den anderen, mit dem Privatjet zu einem Spiel zu fliegen, ohne die Zielflughäfen zu informieren“, berichtet die Zeitung „Gazeta Wyborcza“. Die russische Nationalmannschaft trifft am Freitag zum zweiten Spiel der EM in Breslau auf Tschechien.
Auch in Warschau sorgen die Russen für Wirbel. Die Mannschaft hat ihr EM-Quartier im Herzen der Hauptstadt aufgeschlagen, nur wenige hundert Meter vom Präsidentenpalast entfernt. Dort gedenken an jedem 10. eines Monats nationalkonservative Polen der Opfer von Smolensk. Bei der Flugzeugtragödie am 10. April 2010 war in der westrussischen Stadt der polnische Präsident Lech Kaczynski ums Leben gekommen. Kaczynski-Anhänger machen bis heute den russischen Geheimdienst für die Katastrophe verantwortlich. Polnische Medien warnen deshalb vor einer Großdemonstration gegen die Russen am 10. Juni.
Hinter solchen Meldungen verblasst die verhaltene Vorfreude der meisten Menschen in Polen. An einzelnen Autos im Land sind bereits seit Tagen weiß-rote Nationalfähnchen zu entdecken. Aber 57 Prozent der Polen haben sich in einer jüngsten Umfrage als Fußball-Muffel geoutet. In Danzig, wo die Deutschen ihr EM-Quartier aufgeschlagen haben, ist die Stimmung besser. Bürgermeister Pawel Adamowicz sagt: „Wir sind glücklich, dass die Deutschen hier sind.“