Rolle rückwärts
Patrick van Leeuwen hat es nicht leicht mit seinen Ukrainern. „Ich sage immer: Nicht schimpfen!“, erzählt der Holländer und fügt seufzend hinzu: „Sie kommandieren trotzdem.“ Seit sechs Jahren leitet van Leeuwen das Fußball-Internat des ukrainischen Serienmeisters Schachtar Donezk. Der 42-Jährige mag die Menschen im Land. Doch in seinen Augen ist Verzweiflung zu lesen, wenn er von dem Versuch berichtet, Trainern und Spielern die Prinzipien der sowjetischen Schule auszutreiben. „Befehl und Gehorsam“, lautete über Jahrzehnte hinweg die wichtigste Regel. „Das steckt tief drin“, sagt van Leeuwen. Er würde lieber motivieren statt strafen.
Der ukrainische Nationaltrainer Oleg Blochin sieht das anders. Er hält nichts von holländischen Heilsbotschaften. Spielkultur? „Es geht um die exakte Erfüllung taktischer Aufgaben im Kollektiv“, sagt Blochin. 101 Spiele absolvierte er als pfeilschneller Stürmer im Trikot der UdSSR. Bei der Europameisterschaft soll der 59-Jährige die Ukraine zumindest ins Viertelfinale führen. In einer Gruppe mit Frankreich, England und Schweden wird das schwer. Blochin setzt auf sowjetische Tugenden.
Wer in der Ukraine Macht hat, übt sie aus. Seit zwei Jahren hält Präsident Viktor Janukowitsch in Kiew die Macht in Händen. Er übt sie im Sinne jener berüchtigten Oligarchen aus, die in den 90er Jahren zu Milliardenreichtum gelangten. Mit Mafiamethoden teilten sie damals das frühere Volkseigentum untereinander auf. Heute gehören den Oligarchen alle Schlüsselunternehmen. Sie beherrschen die Medien des Landes und das Parlament. Auch im Sport haben die Oligarchen das Sagen. Janukowitsch hat die demokratischen Ansätze der orangen Revolution von 2004 beseitigt. Es war eine Rolle rückwärts im Zeitraffer.
Zu leiden haben darunter die Menschen. Seit der Weltfinanzkrise 2008 geht es in der Ukraine wirtschaftlich rapide bergab. Wer arbeitet, hat im Durchschnitt umgerechnet 200 Euro in der Lohntüte. Der Staat ist nahezu bankrott. Die Janukowitsch-Regierung spart bei Rentnern und Invaliden. „Nun klauen sie uns auch noch die EM“, sagt der Schriftsteller Serhij Zhadan. Der 37-jährige Fußballfan aus dem ostukrainischen Charkiw spielt damit auf die Boykottdebatten im Westen an. „Ich will tollen Fußball sehen. Um Politik kümmern wir uns anschließend“, erklärt er.
Aber geht das so einfach? Ausgerechnet in Charkiw, wo die Holländer drei Gruppenspiele austragen und am 13. Juni zum Klassiker gegen Deutschland antreten, ist Oppositionsführerin Julia Timoschenko inhaftiert. Janukowitsch hat seine politische Erzfeindin von willfährigen Richtern zu sieben Jahren Gefängnis verurteilen lassen. EU-Politiker sprechen von Rachejustiz und wollen nicht zu den EM-Spielen reisen.
„Tut das nicht, lasst den Fußball in Ruhe!“, fordert Serhij Zhadan und fragt: „Was kümmert unsere Staatsmacht ein Boykott?“ Tatsächlich drohte Janukowitsch der EU bereits mit einem „neuen Kalten Krieg in Europa“. Ursprünglich wollten beide Seiten schon im vergangenen Jahr ein Abkommen über Freihandel und eine enge politische Partnerschaft schließen. Doch daraus wird vorerst nichts. Die EU will die Parlamentswahl im Oktober abwarten.
Den Ausschlag könnten die Ergebnisse der Europameisterschaft geben. „Der Fußball hat in der Ukraine die Macht, das Volk über alle Gräben hinweg zusammenzuführen“, erklärt Zhadan. „Wenn die Mannschaft früh ausscheidet, kann das der Funke sein, der eine neue Revolution auslöst. Spielt die Mannschaft gut, kann Janukowitsch das für sich nutzen.“ Die Verantwortung, die auf Blochin und seinem Kollektiv lastet, könnte größer kaum sein. Fußballkenner Zhadan sagt über Blochin: „Er weiß, was er will.“ Er wird es seinen Spielern mitteilen – vermutlich schreiend.