Ukraine

Angst vor der EM-Pleite

Lose Pflastersteine liegen verstreut auf dem Bahnsteig. Hunderte Passagiere stolpern darüber hinweg und streben dem Ausgang zu. Ihnen entgegen ergießt sich ein Strom von Menschen, die zu den wartenden Zügen drängen. Man trifft sich in der Mitte, in einem zwei Meter schmalen Gang, den ein Bauzaun säumt. „Herrgott noch mal!“, flucht ein Mann und fügt sarkastisch hinzu: „Man hat uns europäische Standards versprochen. Hier sind sie. Willkommen in der EU!“

Wenige Wochen ist die Szene her. Im ostukrainischen Donezk legten Arbeiter vor der Fußball-Europameisterschaft letzte Hand an den prunkvollen Bahnhofsneubau. Inzwischen ist er fast fertig, und auch der Flughafen ist eröffnet. Am 11. Juni wird in der nahen Donbass-Arena das erste von fünf EM-Spielen angepfiffen, die in Donezk stattfinden. Frankreich trifft auf England. Es ist das Duell zweier Turnierfavoriten. Doch noch immer wird vielerorts gewerkelt. Das geschieht mit einer Unbekümmertheit, die in vielen westeuropäischen Staaten undenkbar wäre. Dort wäre die Bahnhofsbaustelle weiträumig abgesperrt gewesen. Hier schuften die Arbeiter inmitten der wartenden Fahrgäste.

„Wir werden es schaffen“, sagt der stellvertretende Bürgermeister Gennadi Tkatschenko. Doch in die Zuversicht mischt sich Enttäuschung. „Die Berichte über die Ukraine, die in westlichen Medien kursieren, werden uns nicht gerecht“, erklärt er und nennt das Beispiel eines englischen Boulevardreporters. „Der ist gekommen, hat drei Prostituierte fotografiert und geschrieben, Donezk sei die Hauptstadt der Huren.“ In Wirklichkeit hätten die Menschen in der Region während der EM-Vorbereitung enorm viel gelernt. „Wir ticken heute viel westlicher als noch vor zwei Jahren.“

Es war ein Ziel der EM-Vergabe an die Ukraine, das Land näher an die EU heranzuführen. Doch die Negativschlagzeilen häufen sich nicht erst, seit der Streit um die inhaftierte Oppositionsführerin Julia Timoschenko eskaliert ist, in Dnipropetrowsk Bomben explodiert sind und Boykottdrohungen die Runde machten. Zuvor war von einer massenhaften Tötung streunender Hunde die Rede. Dann kamen die Meldungen über fehlende Übernachtungsplätze, explosionsartig angestiegene Hotelpreise, eine miserable Infrastruktur, Korruption und Kriminalität hinzu. Eine Woche vor Turnierbeginn geht in Donezk und den anderen ukrainischen Austragungsstädten Lwiw, Kiew und Charkiw die Angst vor der EM-Pleite um.

„Man behandelt uns nicht fair“, sagt Tkatschenko. Vom Donezker Bahnhof verkehren nagelneue Busse ins Stadtzentrum und zum Stadion. Digitale Laufbänder und Lautsprecherdurchsagen kündigen jede Haltestelle auf Ukrainisch und Englisch an. „Wir sind vorbereitet“, betont der stellvertretende Bürgermeister. „200 moderne Busse haben wir gekauft.“ Donezk rechnet mit bis zu 300.000 EM-Touristen. Eine Million Besucher sollen es in der gesamten Ukraine werden. Ob sie wirklich kommen, ist ungewiss. Der ukrainische Ministerpräsident Mykola Azarov sagt: „Trotz aller Hindernisse haben wir fast alle Arbeiten erledigt. Ich lade alle ein, zu kommen. Der politische Streit darf nicht Millionen von Fans ihr Sportfest verderben.“


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