Lemberg – wo die Ukraine ukrainisch ist
Es ist stickig, dunkel und laut an diesem Abend im „Palac Sporty Ukraina“, einer Sport- und Konzerthalle im Zentrum von Lemberg. 4.000 vor allem weibliche Rockfans wollen ihn heute sehen und hören: Swjatoslaw Wakartschuk. Der Sänger ist einer der erfolgreichsten Rockstars in der Ukraine und tourt mit seinem neuen Solo-Projekt „Brüssel“ durchs Land. Lemberg ist der Auftakt der Tournee – kein Zufall, denn Wakartschuk stammt von hier. Lemberg war der Ausgangspunkt seiner Karriere.
Backstage in der Konzertpause, der Sänger erholt sich bei Mineralwasser und Keksen auf einer vergilbten Couch. Der 37-Jährige schreibt alle Liedtexte selbst, sei es für seine Band „Okean Elsy“ oder seine Soloprojekte. Neun Alben hat der promovierte Physiker seit 1998 veröffentlicht. Abgesehen von einigen englischen Titeln singt er nur auf Ukrainisch. „Das ist meine Muttersprache, ich schreibe, denke und fühle auf Ukrainisch.“ Das habe nichts Prinzipielles oder Politisches, erzählt Wakartschuk, der von der Politik inzwischen die Nase voll hat. Als Unterstützer der Orangenen Revolution war er Abgeordneter im ukrainischen Parlament, gab sein Mandat aber aus Enttäuschung über die politische Wirklichkeit nach nur einem Jahr zurück.
Wie Wakartschuk denken viele in der 800.000-Einwohner-Metropole Lemberg. Zwar wird auf den Straßen der Stadt auch viel Russisch und Polnisch gesprochen, Ukrainisch ist aber die wichtigste Alltagssprache. Ganz anders im Osten und Süden des Landes, wo die Menschen hauptsächlich Russisch sprechen. „Oberflächlich betrachtet sind wir ein geteiltes Land: ukrainisch im Westen, sehr russisch im Osten“, sagt Danylo Ilnytski, der an der Iwan-Franko-Universität in Lemberg über ukrainische Literatur promoviert. Bei Danylo und vielen Menschen in der Westukraine sitzt der Stachel sowjetischer Russifizierungspolitik noch immer tief: „Nicht alle, aber viele Russen fühlen sich der Ukraine gegenüber noch immer überlegen“, sinniert der Doktorand. „Ich liebe Dostojewski. Aber warum müssen Russen uns sagen: Dostojewski ist der größere Dichter als Euer Nationaldichter Schewtschenko? Wir brauchen einfach mehr Distanz zu Russland.“
Danylo sitzt nach einer Vorlesung im prunkvollen Treppenaufgang der Universität. Das Gebäude steht auch für die wechselhafte, multiethnische und kosmopolitische Geschichte Lembergs. Die Hochschule, die älteste der Ukraine, wurde 1661 gegründet, als das damalige Lwow zum polnischen Königreich gehörte. Namensgeber und Dichter Iwan Franko lebte und wirkte im habsburgischen Lemberg in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In dieser Zeit waren ein Drittel der Stadtbevölkerung Juden. Auch der Name „Lemberg“ kommt aus dem Jiddischen. In der Zwischenkriegszeit fiel die Stadt wieder an Polen, danach an die Sowjetunion. Erst seit 1991 gehört Lwiw zur unabhängigen Ukraine.
Das Konzert vom Samstag hat Danylo live im Radio gehört. Er schätzt Sänger Wakartschuk, vor allem weil der Frontmann der Gruppe „Okean Elsy“ Ukrainisch singt: „Ukrainisch liegt irgendwo zwischen Russisch und Polnisch, wir sind ja alle slawische Brüder.“ Trotzdem betont Danylo auch die Unterschiede: Ukrainisch sei sehr weich, Russisch viel härter. „Und so ist auch das Temperament der Menschen, Ukrainer sind weicher, zurückhaltender.“
Russisch: Ja, aber nur wenn es sein muss. So lautet die Faustregel von Roman Gawritschewitsch. Der 53-Jährige arbeitet als Taxifahrer in Lemberg und spricht zunächst grundsätzlich Ukrainisch mit seinen Fahrgästen – selbst wenn er auf Russisch angesprochen wird: „Auch wenn jemand aus Charkiw oder Donezk im Osten kommt, ist er doch trotzdem Ukrainer“, erklärt Roman. Etwas anderes sei es, wenn seine Kunden aus Moskau oder St. Petersburg kämen: „Dann sind sie ja aus dem Ausland in unser schönes Lemberg gekommen. Dann wechsle ich sofort ins Russische.“
Der Taxifahrer betreibt nebenbei seine persönliche sprachliche Vorbereitung auf die EURO 2012. Roman nimmt an einem von der Stadt angebotenen Englischkurs für Taxifahrer, Polizisten und Kellner teil. Er will gewappnet sein, wenn im Juni Tausende Fußball-Fans anreisen. Natürlich freut er sich auf die Fußball-EM, auch wenn das Ganze natürlich einen faden Beigeschmack bekommen hat, für ihn vor allen Dingen durch die Bombenanschläge in der Industriestadt Dneprpetrowsk. Wenig Verständnis hat der Taxifahrer allerdings für den Medienwirbel um die inhaftierte Julia Timoschenko in den westlichen Medien. Die frühere Ministerpräsidentin sei doch genauso korrupt wie alle anderen, dem Thema werde viel zu viel Aufmerksamkeit gewidmet, findet Roman.
Auch Andrij Sadowij sieht in der Fußball-Europameisterschaft die Chance, sich von einer positiven Seite zu präsentieren. „Lemberg war immer eine sehr europäische Stadt, 60 Kilometer westlich von hier beginnt Polen“, erklärt der Bürgermeister. „Heute aber trennt uns die polnische EU-Außengrenze von diesem Europa. Das ist wie eine neue Berliner Mauer im Osten Europas.“
Auch Swjatoslaw Wakartschuk hat seinem neuen Album „Brüssel“ einen sehr europäischen Namen gegeben, selbst wenn sein Publikum vor allem den Ukrainer Wakartschuk verehrt: „Wakartschuk, Okean Elsy: Das ist unsere große Lemberger Seele“, schwärmt eine Frau Anfang 30 nach dem Konzert. „Und er singt Ukrainisch. Davon gibt es bei uns heute viel zu wenige.“