Mit Theater gegen Orban
ostpol: Herr Schilling, Sie betonen immer wieder, dass die politische Krise in Ungarn nicht erst durch die Regierung Orban entstanden ist. Aber wann denn?
Arpad Schilling: Schon der Gulaschkommunismus beruhte auf Kompromissen der politischen Passivität: Wir hatten zwar keine politischen Rechte, verreisen konnten wir auch nur jedes dritte Jahr, aber wir konnten zwischen drei Sorten Aufschnitt wählen. Es ging uns immer noch um einiges besser, als den Menschen im Rumänien unter Ceaucescu oder in der Husak-Tschechoslowakei. Ungarn war in der Tat komfortabler und dieser Komfort ging mit der Wende verloren.
Aber wie konnte es zur aktuellen Demokratie-Krise kommen?
Schilling: Die Menschen erhofften sich damals gerade eine gegenteilige Entwicklung, während sie politisch passiv blieben. Demokratie ist aber eine harte, alltägliche Arbeit: Man muss Zeitungen lesen, Informationen im Internet verfolgen, sich die Politiker anhören und die Arbeit des Bürgermeisters hinterfragen. Das bringt unbequeme Konflikte mit sich, die wir uns erspart haben. Viktor Orban, der jetzige Premier hatte die Fähigkeit, seine Sympathisanten zu aktivieren, sich „seine Gesellschaft” aufzubauen.
Und wie soll das Theater zur Lösung der Krise beitragen?
Schilling: Selbst wenn sich die gesamte politische Opposition gegen Orban und seine Regierung zusammenschließt, kann das alleine nicht die Lösung sein. Die schlechten Erfahrungen dürfen nicht addiert, sondern müssen eliminiert werden. Das Theater, das wir machen wollen, soll und kann genau beim Erlernen demokratischer Praktiken helfen.
Sie haben einmal gesagt, dass Theater nur eines wirklich braucht: die Interaktion. Werden Theaterarbeit und kulturpolitisches Engagement durch Interaktion zusammengeführt?
Schilling: Die Organisation einer Demonstration wirft sowohl ästhetische als auch dramaturgische Fragen auf. Jedoch bedarf es einer aktiven und objektiven Gesellschaft, wenn Demonstrationen, Nationalfeiertage oder aber parlamentarische Sitzungen aus einer solchen Perspektive, also einer gesellschaftlichen, Perspektive zu deuten wären. Es würde sehr viel über den öffentlichen Geschmack, die politische Kultur aussagen, sowie darüber, ob wir überhaupt Mitglieder ein und derselben Gemeinschaft sind.
Seit einigen Jahren stehen weniger ästhetische Aspekte, sondern eher gesellschaftliche Fragen im Fokus der Arbeit von Kretakör.
Schilling: Mir wurde klar, dass die Probleme in Ungarn tiefer und ernster sind, als dass ich mich mit Theateraufführungen zufrieden geben könnte – auch wenn diese die Probleme radikal ansprechen. Die Spaltung des Landes und die daraus resultierende Kommunikationsunfähigkeit stört einen Kulturschaffenden umso mehr, denn das sind im Grunde genommen kulturelle Fragen. Egal wie offen und auf welche unkonventionelle Art und Weise wir das Publikum mit Themen konfrontierten, im traditionellen Rahmen des Theaters konnten wir einer wirklichen Diskussion damit nicht näher kommen. Deshalb begannen wir, die uns bekannten Techniken anders zu nutzen und zu erweitern. Die politischen, kulturpolitischen Umstände und die Begegnungen während der Arbeit haben uns in unserem Tun bestätigt.