Polen

Protest gegen Pipeline

Mit 200 Stundenkilometern pressen die Hochdruckdüsen den Spezialbeton auf die vergitterte Haut der Röhren. Die hohlen Stahlkolosse wälzen sich unter dem Gesteinsregen, bis sie von allen Seiten mit der in Sekundenschnelle härtenden Masse ummantelt sind. Keine fünf Minuten dauert der Vorgang, dann spuckt die High-Tech-Anlage das fertige Pipeline-Stück aus. 200 Mal am Tag, 1.000 Röhren in einer Arbeitswoche. „Wir sind gut im Zeitplan“, verkündet Nordstream-Sprecher Steffen Ebert stolz und übertönt das Dröhnen der Maschinen im Röhrenwerk Sassnitz-Mukran auf Rügen.

Geschwindigkeit ist eine der wichtigsten Maximen der Nordstream AG. Das russisch-westeuropäische Konsortium verlegt seit knapp anderthalb Jahren die Ostseepipeline. Heute (Donnerstag) wird der erste Strang bei Lubmin in Mecklenburg-Vorpommern an das landseitige Röhrensystem angeschlossen. Nach einer Testphase soll im Herbst das erste Gas aus Russland in den Westen strömen. „Eine logistische Meisterleistung“, sagt Ebert. 26 Millionen Haushalte in der Bundesrepublik und anderen Ländern Westeuropas will Nordstream ab 2012 mit Gas versorgen. Damit soll der steigende Energiebedarf gedeckt sowie ein Teil jener Lücke gefüllt werden, die der geplante Atomausstieg in Deutschland hinterlassen dürfte. In Mukran ist zu besichtigen, wie beim Nordstream-Projekt ein Rädchen in das andere greift. Kritiker sprechen von der „Mechanik der Macht“.

Im Büro von Ewa Kos am Stettiner Platz des Sieges lehnt ein Fahrrad am Aktenschrank. Der Raum ist klein. Die schmalen Fenster gehen auf den Hinterhof. Durch die Tür dringen die Stimmen der Angestellten der Reiseagentur, die Kos leitet. Es ist die Aura der Machtlosen, die Kos umgibt. Im Nebenjob ist die Mittfünfzigerin Abgeordnete im Sejmik von Hinterpommern – im Regionalparlament jener Wojewodschaft, vor deren Haustür die Ostseepipeline entsteht. Der Röhrenbau gilt dort als Versuch von Russen und Deutschen, über die Köpfe der Polen hinweg Europa die eigene Energiepolitik aufzuzwingen.

Doch auch westlich der Oder, in Vorpommern, war und ist die Pipeline umstritten. Die Verlegung durch den Greifswalder Bodden mit seinem hoch sensiblen Ökosystem ist vielen Bürgern suspekt. Diese umweltpolitischen Anliegen sind auch das Thema von Ewa Kos. Doch die einzige Grünen-Politikerin im Sejmik von Hinterpommern findet in der Öffentlichkeit kaum Gehör. „Wir haben in Polen keine Lobby, im Gegensatz zu den Energiekonzernen“, sagt die Umweltschützerin und fügt hinzu: „Wir haben auch keine Medienplattform. Im Grunde gibt es bei uns nicht einmal eine aufgeklärte Bürgergesellschaft.“
Die Grünen sind in Polen eine Randerscheinung ohne Aussicht auf schnelle Wahlerfolge oder Einfluss auf die Energiepolitik des Landes. Resigniert hat Kos dennoch nicht. „Wir müssen versuchen, die Menschen zu erreichen“, sagt sie. „Die Deutschen leben in einer anderen Wirklichkeit als die Polen“, sagt Kos. „Im Westen ist der Wohlstand längst angekommen. Wir im Osten beginnen erst, uns wirtschaftlich zu entwickeln“, erklärt sie.

Tatsächlich ist Polen ökonomisch auf der Überholspur unterwegs. Das Bruttoinlandsprodukt hat sich seit dem EU-Beitritt 2004 verdoppelt. Die Ökologie droht dabei an den Rand zu geraten, warnt Grünen-Politikerin Kos. Umfragen zufolge hält nur jeder vierte Pole die Umwelt in seinem Lebensumfeld für bedroht. In Deutschland, wo es eine Anti-Atomkraft-Bewegung mit jahrzehntelanger Tradition gibt und die Grünen eine etablierte und zuletzt immer stärker werdende Kraft sind, ist dies grundlegend anders. Dort rangiert die Ökologie auf Rang drei der wichtigsten politischen Themen. Und so tun sich beim Blick auf das Verhältnis zwischen Wohlstand und Naturschutz ideologische Gräben zwischen Ost und West auf.

Ein Paradebeispiel dafür ist die Ostseepipeline. Anders als in Polen liefen in Deutschland und Skandinavien vor allem Umweltschützer von Anfang an Sturm gegen die Nordstream-Pläne. „Der Bau wirbelt Stickstoffe und Phosphate auf“, kritisiert Joachim Lamp vom Ostseebüro der Naturschutzorganisation WWF in Stralsund seit Jahren. Sein Arbeitszimmer ist kaum größer als das von Ewa Kos – und ähnlich angehäuft mit Papieren, Aktenordnern und anderen Zeichen engagierter Arbeit. „Die Überdüngung des Meeres verschärft den Sauerstoffmangel“, warnt Lamp. In der Ostsee gelten bereits heute 20 Prozent des Meeresgrundes als tote Zonen. Der WWF mit seiner anerkannten Meeres-Expertise übernahm im Ringen um den Pipeline-Bau die Federführung auf Seiten der Umweltverbände. Juristische Schritte und direkte Verhandlungen hatten bescheidenen Erfolg: Zehn Millionen Euro investiert die Nordstream AG in ökologische Ausgleichsmaßnahmen. Bei einer Investitionssumme von 7,4 Milliarden Euro sind das allerdings „Peanuts“, wie Lamp einräumt.

Nennenswerte Unterstützung aus Polen bekam Lamp nicht. Im Nachbarland ist das Projekt weniger aus umweltpolitischen als aus geostrategischen Gründen in die Kritik geraten. An der Ostseepipeline haben Regierung, Medien und ein Großteil der Bevölkerung von Anfang an kein gutes Haar gelassen. Polen verliert durch den Bau nicht nur als Energie-Transitland an Bedeutung. Vor allem weckt die deutsch-russische Pipeline-Partnerschaft östlich der Oder alte Ängste. Als Kremlchef Wladimir Putin und der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder das Projekt 2005 auf das Gleis setzten, war in Warschau sogar von einem „neuen Hitler-Stalin-Pakt“ die Rede.

Die Nationalkonservativen um Jaroslaw Kaczynski schüren mit dem Pipeline-Thema seit Jahren antideutsche Stimmungen. Und so ist es wenig verwunderlich, dass deutsche Umweltschützer in ihrem Kampf gegen mögliche Folgeschäden der Gasröhre nicht auf polnische Unterstützung gesetzt haben. Da das Thema in Polen innenpolitisch stark aufgeladen ist, blieben deutsche Umweltschützer mit einer Zusammenarbeit zurückhaltend: „Wir lassen uns vor keinen politischen Karren spannen“, sagt WWF-Mann Lamp. So hat Lamp immer wieder versucht, Aktivisten jenseits der Oder einzubinden. Texte wurden ins Polnische übersetzt – ohne nennenswerten Erfolg.

„Die Menschen haben Angst, energiepolitisch in die Hände der großen Nachbarn in Ost und West zu geraten“, erklärt Ewa Kos die Zurückhaltung. Inzwischen hat sich Warschau entschlossen, künftig mehr Flüssiggas (LNG) aus Algerien und Katar zu importieren und sich so unabhängiger von russischem Gas zu machen. Zu diesem Zweck entsteht im nordwestpolnischen Swinemünde ein LNG-Terminal – in Sichtweite des Röhrenwerks auf Rügen. Die deutsch-polnische Grenzregion wird auf diese Weise immer mehr zu einem Schauplatz für das energiepolitische Wettrüsten in Europa. Selbst die Pläne für einen AKW-Bau in der Nähe von Stettin sind trotz aller anders lautenden Willensbekundungen in Warschau faktisch nicht vom Tisch.

Ewa Kos will sich mit all dem nicht abfinden. „Wir dürfen uns weder dem Diktat des Wirtschaftswunders noch den politischen Scharfmachern beugen“, sagt die Grünen-Politikerin. Kos und ihre Mitstreiter organisieren in Stettin Diskussionsabende zur Energiepolitik. „Wir in Hinterpommern können uns an den Deutschen mit ihren Investitionen in die Erneuerbaren ein Beispiel nehmen“, wirbt sie.

Es bleibt ein Kampf gegen Windmühlen. Doch der dauerhafte Druck von Aktivisten wie Kos und Lamp war es, der die Betreiber der Ostseepipeline im Vorfeld immerhin zu einem „ökologischen Ansatz“ motivierte. „Wir wollten das Pipeline-Projekt so umweltverträglich wie möglich umsetzen“, sagt Nordstream-Sprecher Ebert. Er ist voller Zuversicht, dass das Konsortium dieses Ziel erreicht. „In der zweiten Septemberhälfte stellen wir unseren ersten Monitoring-Report vor“, erklärt Ebert, während draußen ein Kran das nächste betonummantelte Rohr auf einen startbereiten Lkw lädt. Der Motor läuft rund.

Nachdruck und Weiterverwertung dieses Berichts sind kostenpflichtig. Informationen im n-ost Büro unter 030 259 32 83-0.


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