Ukraine

Proteste nach Verhaftung Julia Timoschenkos

Die Stimmung auf der Kiewer Prachtstraße Kreschtschatik ist aufgeheizt. Rund 2000 Demonstranten haben sich vor dem Bezirksgericht Pechersk versammelt, wo derzeit der Prozess gegen die ukrainische Oppositionspolitikerin Julia Timoschenko stattfindet. „Schande über euch“, rufen sie in Sprechchören. Überall wehen rot-weiße Flaggen, ein Symbol der Timoschenko-Partei Batkivschina. Auf der anderen Straßenseite haben die Demonstranten eine Bühne aufgebaut, auf der Politiker von Batkivschina die Freilassung Timoschenkos fordern. „Der Prozess ist eine Farce“, spricht Parlamentsabgeordneter Andrej Pawlowski ins Mikrofon. „Julia, Julia“, ruft die Menge auf der Straße.

Kurz vor 18 Uhr eskaliert die Lage. Tausende Protestler blockieren den Boulevard Kreschtschatik und die Einfahrt zum Gerichtsgebäude. Polizisten rücken an und versuchen die Massen abzudrängen. Mit Schlagstöcken bahnt sich die Polizei den Weg frei, es gibt mehrere Verletzte. Ein junger Mann sitzt auf dem Gehweg, drückt sich Taschentücher in die Augen. Seine Freundin schüttet ihm eine Flasche Wasser über den Kopf. Ein Polizist habe ihm Tränengas ins Gesicht gesprüht, sagt die Freundin. In der Nähe steht ein Rentner mit einer klaffenden Wunde am Arm. Die Verletzung sei von einem Schlagstock, sagt er.

Die Oppositionspolitikerin Julia Timoschenko steht derzeit vor Gericht. Ihr wird vorgeworfen im Jahr 2009 zu ihrer Zeit als Regierungschefin, eigenmächtig Gasverträge zwischen der Ukraine und Russland abgeschlossen zu haben. Das Gasgeschäft sei nachteilig für die Ukraine gewesen, Timoschenko habe dem staatlichen ukrainischen Gasversorger Naftogaz einen Schaden in Millionenhöhe zugefügt. Seit Freitag sitzt Timoschenko wegen „Missachtung des Gerichts“ in Untersuchungshaft. Sie hatte den Richter mehrmals als „Dorftrottel“ und „Marionette“ beschimpft.

Internationale Beobachter sprechen von einem unfairen Verfahren. Der Prozess erwecke den Eindruck von politischer Justiz und könne die Annäherung der Ukraine an die EU gefährden, sagt Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen Amt. Auch die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und das Europäische Parlament äußerten sich besorgt. „Die politischen Akteure in der Ukraine müssen dafür Sorge tragen, dass die eindeutig selektive Justiz in der Ukraine endlich beendet wird“, fordert Grünen-Abgeordnete Viola von Cramon.

Julia Timoschenko war eine Leitfigur der Orangenen Revolution, die 2004 zum Sturz des autoritären Präsidenten Leonid Kutschma führte. Zu den Errungenschaften der Orangenen Revolution gehören die Pressefreiheit sowie die Annäherung der Ukraine an die Europäische Union.

Im Falle einer Verurteilung drohen Julia Timoschenko bis zu zehn Jahre Haft. Selbst wenn das Gericht die die Politikerin nur auf Bewährung verurteilt, wäre ihre politische Karriere vorbei. Denn mit einer Vorstrafe dürfte sie bei den Parlamentswahlen im nächsten Jahr nicht mehr antreten. Ohne Timoschenko wäre auch die Opposition in der Ukraine über Jahre geschwächt. Bereits jetzt fällt es der Baktivschina-Partei schwer, genügend Unterstützer für Timoschenko auf die Straße zu bekommen. Trotz der Demonstration am Montag gibt es bis jetzt keine Anzeichen von Massenprotesten.

Am Samstag rief die Baktivschina-Partei Jugendliche über eine Webseite auf, sich an einer Demonstration vor dem Untersuchungsgefängnis Lukjanowka zu beteiligen. Die Organisatoren versprachen den Jugendlichen für die Teilnahme umgerechnet 1,50 Euro pro Stunde. Auch unter den Timoschenko-Anhängern, die seit Tagen vor dem Bezirksgericht Pechersk kampieren, sind viele Rentner, die Geld für ihre Anwesenheit bekommen. Der Kiewer Politologe Vadim Karasjow glaubt dennoch, dass der Timoschenko-Prozess zu einer großen Protestbewegung führen könne: „Mit der Inhaftierung Timoschenkos hat die Regierung eine Symbolfigur für alle Unzufriedenen im Land geschaffen“.

Der Boulevard Kreschtschatik ist inzwischen von einer Polizeikette abgeriegelt. Ein gepanzerter Polizeiwagen verlässt die Ausfahrt des Gerichtsgebäudes. Hunderte Polizisten umringen das Auto. Drinnen sitzt die ehemalige Premierministerin auf ihrem Transport ins Gefängnis.


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