Estland

Kritisches Theater in der Kulturhauptstadt Tallinn

Es ist eine Oase mitten in der Stadt. Eine, die sich abhebt vom mittelalterlichen Flair, der Shoppingmeile und dem schicken Hotelviertel des Tallinner Stadtkerns: Aus vielen Strohballen hat das Theater NO 99 eine temporäre Spielstätte aufgebaut. Im Kulturhauptstadt-Jahr sollen hier kritische Produktionen einen Raum haben. Das Strohtheater ist zugleich ein Ort für alle, die sich dem Mainstream-Freizeitangebot entziehen möchten. Die einen picknicken, die anderen spielen Tischtennis. Auf einem aufgemalten Brett wird Schach gespielt.

Tiit Ojasoo, der 33-jährige Leiter von NO 99 freut sich, dass sich das Strohtheater auch außerhalb der Aufführungen zu einem beliebten Treffpunkt entwickelt hat. Zufrieden sitzt er im Liegestuhl: „Jeder Mensch, egal ob Tallinner oder Tourist, soll sich hier wohl fühlen. Er kann Skateboard fahren oder in der Sonne liegen.“ Es gebe zwar ein Café, doch niemand werde zum Konsum gezwungen, sagt Ojasoo. Die Haltung ist typisch: Bewusst setzen die Macher auf ein Kontrastprogramm zu jenem Mittelalter-Zirkus zwischen den dicken Mauern der nahe gelegenen Altstadt, den manche Tallinner als „Disneyland“ kritisieren. Gerade die jungen Esten sollen den öffentlichen Raum zurückerobern und sich vom Kommerz nicht verdrängen lassen.

In dem schwarz angestrichenen Strohtheater zeigen Ojasoo und sein Team internationale Produktionen, die ihnen bei den Wiener Festwochen oder in Avignon aufgefallen sind. Die Stücke greifen Probleme der Gegenwart auf und bilden somit ein Gegengewicht zum Programm der Kulturhauptstadt, das vor allem auf Musik setzt. Die Berliner Volksbühne hinterfragt in „Am Beispiel eines Hummers“ die moderne Moral am Beispiel der Lebensmittelindustrie, das internationale Smeds Ensemble erinnert an das subversive Theater der Sowjetzeit und die Installation „Self-Organizing System“ erkundet, wieso jedes System zwangsläufig im Chaos endet. Auch die Konzerte und Filmvorführungen sollen die Zuschauer dazu anregen, Gewohntes und scheinbar Selbstverständliches in Frage zu stellen.

Tiit Ojasoo war erst 26 Jahre alt, als er mit Ene-Liis Semper das ehemalige estnische Staatstheater übernahm. Beide setzen auf junge Schauspieler, abstrakte Bühnenbilder, Musik und Multimedia. Dass Estland 2011 den Euro eingeführt hat und die Wirtschaft boomt, beeindruckt Ojasoo ebenso wenig wie der Wunsch der Regierung, sich als Pionier des e-government zu präsentieren.

Die Regierung verdränge die echten Probleme, klagt Ojasoo. So werde zum Beispiel das nationalistische Gedankengut in der estnischen Gesellschaft geradezu totgeschwiegen. Deswegen inszenierte er 2008 das Stück „Heiße estnische Männer“, das von Esten handelt, die unbedingt viele Kinder zeugen wollen, damit ihre Nation nicht ausstirbt. Auch in den Medien beobachtet er ähnliche Tendenzen: „Es macht sich ein alarmierender Konservatismus breit. Die Politiker streiten über die Gefahren der Homo-Ehe oder der Einwanderung, obwohl es beides bei uns nicht gibt.“ Für Ojasoo sollen diese Scheindebatten von Herausforderungen wie der Abwanderung junger Talente oder der schleppenden Integration der 300.000 russischsprachigen Esten ablenken.

Um auf solche Missstände aufmerksam zu machen, bewegt sich NO 99 in seinen Inszenierungen an der Schnittstelle zwischen Realität und Fiktion. Im Frühjahr 2010 war das Ensemble wochenlang in den Schlagzeilen. Es hatte eine Partei namens „Einheitliches Estland“ ins Leben gerufen, ihre Hymne verhieß allen Bürgern ein besseres Leben. „Wir wollten den Populismus der Parteien entlarven, indem wir noch mehr versprachen als sie“, erinnert sich Ojasoo. Die Provokation funktionierte: Zum fiktiven Gründungsparteitag kamen 7.000 Menschen.
Ojasoo grinst, wenn er über den Parteitag spricht. Zugleich ist er noch immer bestürzt: „Viele waren traurig, als wir verkündeten, dass wir nicht antreten werden. Es läuft doch etwas falsch, wenn so viele Bürger glauben, ein paar Schauspieler könnten über Nacht ihre Probleme lösen.“

Das neueste Projekt „Three Kingdoms“ dreht sich um Prostitution und Menschenhandel. Gerade probt das Ensemble NO 99 mit den Münchner Kammerspielen und dem Londoner Lyric Hammersmith Theatre für die Premiere. Sie findet am 19. September 2011 in Tallinn statt – wenn NO 99 ins Haupthaus zurückgezogen ist und das Strohtheater wieder abgebaut wird.


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