Ukraine

Ferien wie in der Sowjetunion

Ludmilla ist aufgeregt, morgen schickt sie ihre Nichte Irina das erste Mal alleine in die Sommerferien. Die Achtjährige ist Vollwaise und wird mit dem Zug von Kiew auf die Krim in die Ferien fahren. „Als ich ein Kind war, durften nur die besten Schüler ins Ferienlager Artek. Damals war es eine Auszeichnung dorthin zu fahren“, sagt Ludmilla. „Es war nicht alles verkehrt, was es damals gegeben hat. Heute bin ich froh, dass sich Vater Staat um Irinas Ferien kümmert“, gibt die 56-Jährige unumwunden zu.
 
Bei einem Durchschnittseinkommen von umgerechnet 130 Dollar pro Monat können sich die wenigsten Eltern in der Ukraine einen Urlaub leisten, geschweige denn eine Fahrt ins Ausland. Also schicken sie ihre Kinder während der dreimonatigen Sommerferien gerne für ein paar Wochen ins Ferienlager. Das berühmteste ist Artek.

Das „Allunions-Ferienlager Artek“ wurde im Juni 1925 von der Pionierorganisation „Wladimir Iljitsch Lenin“ als Erholungslager für tuberkulosekranke Kinder gegründet. Im Laufe der Jahrzehnte entwickelte es sich zum weltgrößten Kinderferienlager und Vorzeigeobjekt der UdSSR. Zu Zeiten der Sowjetunion war es eine Legende: Prominente wie der Astronaut Juri Gagarin oder Fidel Castro schauten damals vorbei.

Noch heute zieht sich das riesige Areal mit 150 Häusern, einem Konzertsaal, mehrere Schwimmbecken, Museen sowie einem eigenen Fernsehstudio über sieben Kilometer an der Schwarzmeerküste entlang. Insgesamt umfasst es eine Fläche von knapp fünf Quadratkilometern. In direkter Nachbarschaft liegt der berühmte Kurort Jalta.

Doch während das Lager früher vor allem Nachwuchskadern der Partei vorbehalten war, verbringen dort heute vor allem Kinder aus benachteiligten Familien ihre Ferien. Der Staat bezahlt den Großteil der Aufenthalte. Die Kosten pro Kind belaufen sich auf 500 bis 1.500 Euro für etwas mehr als zwei Wochen. Vor allem Waisen wie Irina, Behinderte oder Kinder aus Großfamilien soll auf diese Weise ein Urlaub ermöglicht werden. Generaldirektorin Elena Podubnaja setzt dabei auf Disziplin, Leistungsbereitschaft und Gehorsam. Tugenden, die dort auch während der UdSSR hochgehalten wurden.

Bevor die täglichen Programme losgehen, wird am frühen Morgen die Artek-Fahne aufgezogen und die hauseigene Hymne gespielt. Dazu haben sich alle Kinder auf einen großen Freiplatz einzufinden. Irina aus Kiew sagt: „Mir gefällt es hier.“ Mit ihr im Achtbettzimmer wohnen Kinder aus allen GUS-Staaten, seit ein paar Jahren kommen auch vermehrt Gäste aus Asien ins Ferienlager Artek. Im Juni schaute Bildungsminister Dmitri Tabatschnik vorbei. Er steht im Ruf, die Ukraine bildungspolitisch wieder enger an Russland zu binden.

Die Bastel- und Tanzstunden, die Irina täglich besucht, haben mit Spielerei wenig zu tun. Sie erinnern eher an einen Leistungskurs. Die Kinder sitzen kerzengerade und hören den genauen Anweisungen zu. Selbst das Falten japanischer Origami-Figuren wird zum Leistungstest. Keiner spricht, es wird hochkonzentriert gearbeitet. Dieses Mal sind die Asiatinnen die Geduldigsten und Geschicktesten. Irina stört der Drill nicht, im Gegenteil: „Ich würde das auch gerne so gut können“, sagt sie bewundernd.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war das Ferienlager Artek zeitweise ins Schlingern geraten. Doch die ukrainische Regierung entschied sich für eine umfassende Förderung und rettete damit Teile des sozialistischen Jugendtraums bis in die Gegenwart. Offenbar kommt das Konzept bei vielen Ukrainern an: „Im vergangenen Jahr hatten wir 35.000 Besucher“, sagt Artek-Pressesprecherin Tatjana Grigorets. „Das ist absoluter Rekord.“


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