Öko-Pioniere am Amazonas Europas
Zart wiegen sich die Spitzen des Schilfs im Wind, ab und an fliegt eine blau glänzende Libelle vorbei und laut schimpfend kurvt eine der seltenen Trauerseeschwalben durch die Luft — das Flusstal des Narews ist ein kleines Paradies. In der Wojewodschaft Podlachien, im äußersten nordöstlichen Winkel Polens, windet sich der mit 484 Kilometer fünflängste Fluss Polens mit vielen Verästelungen und Schleifen durch die dünn besiedelte Landschaft. Nur ein paar Kilometer von Belarus entfernt befindet sich der Narew-Nationalpark. Vogelfreunde können sich dort an mehr als 200 Vogelarten begeistern, Erholungssuchende durch die verschlungenen Seitenarme des Flusses paddeln. Wer es weniger aktiv mag, lässt sich von Einheimischen auf einer Stocherkahnfahrt die Geheimnisse des Narews zeigen.
Doch die heimelige Atmosphäre täuscht. Denn etliche der Einwohner in den Dörfern entlang des Narews sind seit den 1990er Jahren ausgewandert oder ins naheliegende boomende Warschau gezogen, wo gut bezahlte Jobs locken. Die Landflucht bedroht die traditionell gewachsene Kulturlandschaft, die die Bauern durch die landwirtschaftliche Nutzung der Flussauen intakt hielten. Für die Landwirte lohnt es sich aber schon seit längerem nicht mehr, die stark versumpften Ufer und die vielen kleinen Inseln des Narews zu mähen. Die Wiesen sind kaum zugänglich, die dort wachsenden Seggengräser für die Kühe nicht nahrhaft genug. Wenn die Vegetation aber nicht Jahr für Jahr kurz gehalten wird, verdrängt das wuchernde Schilf das Gras. Und mit den monotonen Schilfflächen verschwinden Lebensräume für viele seltene Vogelarten wie Seggenrohrsänger, Blaukehlchen oder Trauerseeschwalbe. „Wir können die Artenvielfalt nur erhalten, wenn das Schilf regelmäßig gemäht wird“, sagt Piotr Banaszuk. Der Landschaftsökologe der Technischen Universität Bialystok ist Vorsitzender des Wissenschaftlichen Rats des Nationalpark Narew – und ist glücklich über Öko-Pioniere wie Michal Gogol.
Denn für den 36-jährigen Landwirt Gogol aus dem kleinen Dorf Zaczerlany am Rand des Nationalparks ist das bei Naturschützern unbeliebte Schilf, das sich unaufhaltsam entlang des Flusses breit macht, viel Geld wert. Seit Juli mäht Gogol mehr als 50 Hektar Sumpfland im Narew-Tal. Dem Bauern bringt das reiche Ernte: Mehr als 1.000 riesige Schilfballen lagern zum Trocknen auf seinem Hof, wo Gogol sie zu Briketts verarbeitet. Die Schilfbriketts lassen sich im Winter hervorragend verheizen. „Sie brennen besser als Holz und sind billiger als Steinkohle“, sagt Gogol, während er versucht, ein Zahnrad der blockierten Brikettmaschine mit einem Schraubschlüssel wieder zum Laufen zu bringen. Bis zu 60 Säcke Biobriketts kann der kleine, drahtige Landwirt mit dem breiten Kreuz täglich herstellen.
Für umgerechnet fast drei Euro verkauft Gogol einen 25-Kilo-Sack Briketts. Mittlerweile läuft das Geschäft mit der Biomasse so gut, dass er über den Kauf zusätzlicher Maschinen nachdenkt, um die Brikettproduktion weiter zu automatisieren. Dass Gogol mit seinem Nischenangebot eine vierköpfige Familie ernährt, ist für ihn natürlich erfreulich, aber nicht der einzige Antrieb. Er will sich auch für die Umwelt engagieren: „Die Briketts sind klimafreundlich, denn sie verschmutzen die Luft nicht so stark wie die Steinkohle.“ Erhalten will er auch seine Heimat, denn Gogol ist hier geboren und hat den Hof seiner Eltern übernommen: „Ich fühle mich verantwortlich für diese Region“, sagt Gogol, der deswegen auch nie wegziehen wollte.
Für den Wissenschaftler Piotr Banaszuk von der Universität Bialystok sind Menschen wie Gogol „wichtige Pioniere“. „Sie packen da an, wo andere sich nicht trauen. Und Schilf schneiden ist ein echter Knochenjob“, sagt er. Derart mutige und risikofreudige Menschen finden sich im Narew-Tal nicht mehr all zu viele. Unterstützung bekommen sie von Organisationen wie der deutschen Umweltstiftung EuroNatur oder dem Nordpodlassischen Bund für Vogelschutz, die in der Region Initiator vieler ökologisch nachhaltiger Projekte sind. „Die Bauern des Narew-Tals zählen zu den wichtigsten Verbündeten des Naturschutzes”, lobt EuroNatur-Projektleiter Lutz Ribbe.
Ein weiterer Vorreiter in der Narew-Region ist auch der Milchbauer Grzegorz Sokol. Der 36-Jährige aus dem Dörfchen Kolonia Panki ist Chef einer 14-köpfigen Vereinigung von Landwirten, die Pflanzenöl produzieren möchte. Sokol gilt im Dorf als „Ölscheich von Kolonia Panki“, weil er sich als Erster im vorigen Jahr eine Ölmühle angeschafft hat. Damit mahlt er Leindottersamen. Rund 100 Liter Öl hat er im ersten Jahr produziert – wertvollen Treibstoff, mit dem er die Tanks seiner vier Traktoren füllen und sich so die Kosten für teures Diesel sparen kann. Aus dem restlichen Samenmaterial presst er Ölkuchen, das er als Futtermittel für seine mehr als 80 Kühe nutzt. „Das ist besser als Soja und spart viel Geld“, freut er sich. Klappt Sokols Versuch mit der Ölproduktion, wollen noch mehr Landwirte in den neuen Geschäftszweig einsteigen. Den Ökologen Banaszuk würde das freuen, denn der gelbblütige Leindotter gilt als traditionelle Anbaupflanze, die vorzüglich an die Boden- und Klimaverhältnisse im Osten Polens angepasst und einst weitverbreitet war, ehe er vielerorts monotonen Maisfeldern weichen musste. „Der Anbau von Leindotter und Getreide als Mischkultur ist sehr umweltschonend, weil die Felder nicht gespritzt werden müssen und sich viele Insekten wohlfühlen“, sagt der Wissenschaftler.
Während Ölproduzent Sokol erst am Anfang steht, hat Danuta Popko mit ihrem Businessmodell bereits Erfolg. Die Landwirtin hat als erste in der Wojewodschaft eine private Hofkäserei aufgebaut. Allerdings musste sie sich dafür erst mal gegen ihren Ehemann und Sohn durchsetzen, um aus einem Teil der Milch ihrer 25 Kühe Käse zu machen. „Narew-Käse“ heißt der bereits preisgekrönte Exportschlager aus dem Hause Popko; ein runder, gelber Hartkäse, den es in verschiedenen Kräutergeschmacksrichtungen auf ihrem Hof zu kaufen gibt. „Anfangs dachten wir, dass das nur ein Taschengeld ist, aber mittlerweile macht der Käse die Hälfte unseres Umsatzes aus”, freut sich Popko und zeigt stolz den eigens aus Dänemark importierten Käsekessel. Bis zu 100 Kilogramm Käse produziert die Familie nun jede Woche, den ihr Touristen, Nachbarn und sogar private Käseliebhaber auf dem Markt in Warschau aus der Hand reißen.
Auch der rüstigen Landwirtin geht es um mehr als finanziellen Reibach. In einer lokalen Aktionsgruppe engagiert sie sich mit anderen Kleinunternehmern, um die wirtschaftliche Entwicklung anzukurbeln und um für den Besuch der Region zu werben. „Narew hat einen positiven Klang. Es gibt keine Industrie, viel Natur und eine saubere Umwelt“, sagt sie. Das müsse man auch nutzen, um mehr Touristen anzulocken.
So couragiert wie Popko sind nicht viele ihrer Nachbarn. „Vielen fehlt das Selbstvertrauen, die sind zu lethargisch“, klagt sie. Dass sie sich auch nicht von oberster Stelle einschüchtern lässt, beweist sie gerade wieder aufs Neue. Das Landwirtschaftsministerium in Warschau hat verfügt, dass Hofprodukte wie Popkos Käse nicht mehr in Geschäften außerhalb der Wojewodschaft verkauft werden dürfen. Die Unternehmerin kann nun nicht mehr ins 180 Kilometer entfernte Warschau fahren, um ihre Produkte zu verkaufen. Für das wachsende Bio-Bürgertum in Warschau, das sich zunehmend hochwertige Produkte leistet, kein Problem: Für Popkos Käse kommen die gesundheitsbewussten Hauptstädter bis zu ihr auf den Hof gefahren.