Europas Musterschüler beim Sparen
Der Stolz ist Estlands Präsident Toomas Hendrik Ilves deutlich anzumerken. Nur zwei der 17 Euro-Länder erfüllen momentan die Maastricht-Kriterien, die ein Defizit von maximal drei Prozent erlauben: Luxemburg und Estland. Ein Grund, warum die kleine Baltenrepublik am 1. Januar 2011 den Euro einführen durfte, was nicht nur an der Ostsee als Ritterschlag gesehen wird. Den Beitritt zu EU und Nato hatte die einstige Sowjetrepublik mit ihren 1,4 Millionen Einwohnern schon 2004 vollzogen.
Ilves vergleicht sein Land mit einem Hochschulabsolventen: „Es fühlt sich toll an, keine Prüfungen mehr ablegen zu müssen, doch man fragt sich, wie es im Leben weiter geht.“ Europa erlebe tiefgreifende Veränderungen, diagnostiziert der 57-Jährige: Die Aufteilung in Ost und West sei überholt. Die Achse habe sich um 90 Grad gedreht: „Die Trennlinie verläuft zwischen Nord und Süd.“ Er lässt keine Zweifel offen: Estland sieht sich an der Seite von Deutschland, Holland und Skandinavien.
Die Zahlen geben ihm recht: Im ersten Quartal 2011 verzeichnete Estland mit 8,5 Prozent das höchste Wachstum aller 27 EU-Länder. Die Staatsverschuldung ist hingegen mit 6,6 Prozent die niedrigste im Euro-Raum. Den Nachbarn Lettland rettete nur ein Milliardenkredit des Internationalen Währungsfonds. Den „außergewöhnlich starken Zustand“ der öffentlichen Finanzen nannte die Ratingagentur Fitch jüngst als Grund für die Anhebung der Kreditwürdigkeit auf „A+“.
Während viele der alten EU-Länder im Schuldensumpf versinken, freuen sich etliche Neu-Mitglieder aus Osteuropa über ausgeglichene Haushalte und Wachstumsraten. Selbst das ansonsten wegen Korruption und Vetternwirtschaft gerügte Bulgarien wurde vor kurzem von der Ratingagentur Fitch heraufgestuft. Der Schuldenstand des südosteuropäischen Staates beträgt nur gut 16 Prozent der Wirtschaftsleistung. In Deutschland liegt die Schuldenquote bei 83 Prozent.
Wie andere osteuropäische Länder profitiert auch Estland profitiert von einer weitsichtigen Fiskalpolitik: In der Boomzeit zwischen 2000 und 2007 wurden die Überschüsse in einen Stabilisierungsfonds eingezahlt, der ein Neuntel des Bruttoinlandsprodukts beträgt. Nach der Wirtschaftskrise setzte Premier Andrus Ansip einen strikten Sparkurs durch: Er erhöhte die Steuern und kürzte Beamtengehälter um ein Zehntel. Das war politisch umstritten, doch die Regierung wurde im März 2011 im Amt bestätigt.
Das baltische Land lockt zudem ausländische Investitionen an. „Im ersten Vierteljahr flossen 427 Millionen Euro nach Estland“, sagt Marija Alajoe von Enterprise Estonia, deutlich mehr als 2010. Ericsson produziert in Tallinn Mobiltelefone für den Weltmarkt und ABB beschäftigt mehr als 1000 Esten. Auch der Tourismus boomt.
Die Baltenrepublik profiliert sich als „E-stonia“, wo der Internet-Telefondienst Skype erfunden wurde. Bereits 1997 wurden alle Schulen ans Internet angeschlossen und eine schlanke Verwaltung aufgebaut. 2011 wurden 93 Prozent aller Steuererklärungen online abgegeben und Bustickets werden ebenso wie Parkscheine per Mobiltelefon bezahlt.
Doch Präsident Ilves ruht sich nicht auf alten Erfolgen aus: Anfang Juli diskutierte er mit Investoren, Politikern und Journalisten über Estlands Rolle in der Welt. Während einige auf die Finanzbranche setzen wollen, sehen andere Estlands Zukunft als Logistikdrehscheibe für den Handel mit China. Ilves möchte in Bildung investieren und sorgt sich um die weichen Standortfaktoren. Zwar können Firmen wie Skype Spitzenpersonal von Nokia abwerben und adäquate Gehälter zahlen: „Aber die Entwickler möchten meist nicht hier leben, weil die Lebensqualität nicht hoch genug ist.“ Aus ähnlichen Gründen kommen viele Esten, die im Ausland Karriere gemacht haben, nicht zurück. Also startete die Handelskammer die Kampagne Bring the talents home: Etwa 500 Exil-Esten trugen sich in eine Datenbank ein, doch bisher sind nur neun umgezogen.
Die deutschen Unternehmen sind hingegen zufrieden: Laut einer Umfrage der Deutsch-Baltischen Handelskammer würden 93 Prozent wieder den Standort Estland wählen. Sie profitieren von einem einfachen Steuerrecht: Es gilt ein einheitlicher Einkommenssteuersatz von 21 Prozent und wenn die Gewinne reinvestiert werden, fällt keine Körperschaftssteuer an. „In der Vergangenheit war dies ein wichtiger Erfolgsfaktor“, urteilt Stephan Kuhn von Ernst & Young. Auch in einer anderen Frage ist der Schweizer Unternehmensberater voll des Lobes: „Im regionalen Vergleich ist es Estland bisher am besten gelungen, ein positives Image aufzubauen.“