Belarus

Stummer Protest gibt Belarussen eine Stimme

In belarussischen Städten gibt es ein neues Phänomen. Immer wieder versammeln sich die Bürger auf den großen Plätzen in Minsk oder Brest. Die Menge schweigt, gibt keine Losungen von sich, trägt keine Transparente. Die Menschen klatschen, immer wieder, ohne Pause. Für öffentliche Kundgebungen müsste man eine Erlaubnis holen, bekommt aber keine. So ist das Klatschen ein Protest, immer wieder gibt es Festnahmen. Das Potenzial der Straßenaktionen ist schwer einzuschätzen. Aber noch vor einem halben Jahr waren sie undenkbar. Und nun gibt ausgerechnet das Schweigen den Belarussen eine Stimme.

Nach der letzten Präsidentschaftswahl am 19. Dezember 2010 wurden während Protesten etwa 700 Menschen festgenommen. Dutzend Aktivisten und drei ehemalige Präsidentschaftskandidaten sind hinter Gitter.

Wir Belarussen, die wir Geduld und Toleranz unsere beste Tugend nennen, sind verunsichert. Belarus steckt in der schwersten Krise seit 15 Jahren. Die Nationalwährung wurde im Mai um 56% abgewertet, die Inflationsrate liegt bei 34%, Devisen werden knapp, deshalb kann Belarus weniger Waren aus dem Ausland kaufen. Die Preise für Lebensmittel, Zigaretten und Sprit ändern sich jeden Tag. Noch 2010 ging es uns wirtschaftlich sehr gut – dank der Möglichkeit, billiges Gas und viel Öl aus Russland zu importieren. Heute greifen wir auf unsere Ersparnisse zurück und sichern einen Vorrat an Zucker, Sonnenblumenöl und sogar Salz. Und wir fragen uns: Was jetzt? Wie weiter? Müssen wir wirklich einfach nur mehr arbeiten, wie die Regierung sagt?

Ist es eine Finanz- oder schon eine Wirtschaftskrise? Die Regierung hofft auf neue Kredite von IWF und Russland und verspricht, die Situation innerhalb eines Monats zu stabilisieren. Aber wie sie das schaffen will und ob sie tatsächlich etwas macht, das weiß keiner.

Die Europäische Union scheint genauso hilflos zu sein. Sie verhängte Wirtschaftssanktionen gegen belarussische Firmen, die das Regime unterstützen. Mehr als hundert Beamte dürfen nicht in die EU reisen, da sie sich an Menschenrechtsverletzungen beteiligten. Doch schon 2008 erklärte Brüssel die Sanktionen-Politik gegenüber Minsk für gescheitert. Die Wiederaufnahme zeugt von Ratlosigkeit einerseits und fehlendem Interesse für Belarus andererseits. Und die EU scheint nicht in der Lage, eine langfristige Strategie für das Nachbarland zu entwickeln.

Auch Moskau gilt als Beobachter der Lage. Und gerade dieses beobachtende Nichtstun ist vielsagend. Russland ist der Nachbar, der die ökonomische Verschlechterung beeinflusst hat – und so seine Wirtschaftskontrolle über Belarus festigt. Die Verhandlungen über den Verkauf strategischer Betriebe sind genauso intransparent wie die Bedingungen für russische Kredite. Das russische staatliche Fernsehen berichtet täglich über Belarus: über die kaputte Wirtschaft, die aggressive Polizei und ein machtloses Volk. Wegen dieser Machtlosigkeit wird es immer wahrscheinlicher, dass Russland seinen Nachbarn bald auch wirtschaftlich beherrscht.

Und nun klatscht das Volk dazu. Der Applaus drückt genau das Gegenteil von Zustimmung aus – er steht für den Unmut der Belarussen. Über soziale Netzwerke verabreden sich die Menschen zu Mittwochsprotesten. Twitter, Facebook und ihre russische Versionen sind in Belarus sehr populär und die Internet-Nutzung wird kontrolliert (es heißt da: geregelt), aber nicht eingeschränkt.

Bisher ist nicht klar, wie viele Proteste es derzeit gibt und wo sie stattfinden. Die Menschen riskieren ihre Freiheit, aber bekämpfen die Angst. Die Plätze werden abgeriegelt, Klatschen auf der Straße wird seit neuestem offiziell als Störung der öffentlichen Ordnung angesehen. Während des Nationalfeiertags am 3. Juli wurden etwa 400 Menschen festgenommen, darunter ein eineinhalbjähriges Kind. Die Verhaftungen erfolgen durch Polizisten in Zivil, ohne sichtbaren Grund oder einen Rechtsgrund. Doch nicht die Polizei, sondern der Staat wird dadurch blamiert: Wir Belarussen werden dank der Proteste mit den strukturellen Mängeln konfrontiert und für diese sensibilisiert.

Was aber sind die Forderungen der Demonstranten? Keiner formuliert sie. Die Opposition ist zerschlagen und hält sich zurück. Ja, es wäre besser, einen Anführer zu haben und ein Reformprogramm. Doch der Spielraum für Andersdenkende ist eng. Schon das Schweigen wird für die Machthabenden zu laut.

Nachdruck und Weiterverwertung dieses Berichts sind kostenpflichtig. Informationen im n-ost Büro unter 030 259 32 83-0.


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