Bosnien-Herzegowina

Die 68er des Balkans

„Meine Dame! Geben sie uns Ihre Unterschrift!” Vier Mädchen stehen im Schatten eines Baumes auf der belebten Ferhađija-Straße in Sarajevo. Sie engagieren sich für REKOM. Diese Initiative setzt sich dafür ein, dass regionale, historische Kommissionen zur Aufarbeitung der Balkankriege der 1990er Jahre eingerichtet werden. Eine halbe Million Unterschriften haben die Aktivisten in drei Monaten gesammelt und den Regierungen der sieben jugoslawischen Nachfolgestaaten vorgelegt. Die Präsidenten von Kosovo, Serbien und Mazedonien weigerten sich jedoch, die Petition anzunehmen.

REKOM wurde 2008 von der serbischen Menschenrechtsaktivistin Nataša Kandić in Belgrad gegründet. Insgesamt 1600 Nichtregierungsorganisationen im gesamten ehemaligen Jugoslawien haben sich der Initiative angeschlossen und eine 70-seitige Gesetzesvorlage erarbeitet. Ende März wurde sie in Belgrad verabschiedet.

Das Ziel von REKOM ist es, den Blick auf die Opfer der Balkankriege zu richten. Staatlichen Angaben zufolge gibt es 130.000 Tote und Vermisste. Bis heute werden immer wieder Massengräber entdeckt, die diese Zahl erhöhen.

Das Urteil über die Täter überlässt die Initiative jedoch den Gerichtshöfen, vor allem dem Internationalen Kriegsverbrechertribunal in Den Haag, vor dem in diesen Tagen der Prozess gegen den vermutlich wichtigsten, mutmaßlichen Kriegsverbrecher Ratko Mladić beginnt. Seine Verhaftung nach 16 Jahren wird von den in REKOM organisierten Opferverbänden begrüßt, ist jedoch keine Genugtuung für das Erlittene. REKOM will die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zum Gesetz machen: Ähnlich wie die afrikanischen Wahrheitskommissionen fordert die Initiative öffentliche Anhörungen, um Fakten über die Kriege der 1990er zu sammeln und Empfehlungen für Entschädigungen zu geben. Eine Dokumentation, keine juristische Bewertung.

„Hier geht es nicht um die eine, unumstrittene Wahrheit“, sagte der Schriftsteller Miljenko Jergović, der die Initiative unterstützt, im Wochenblatt Dani. „Das Ziel ist eine Faktensammlung: Es sollen die Zahl der Opfer, die Namen der Menschen und Schilderungen ihres Leidens zusammengetragen werden.“ Ein solches Totenbuch sei das Mindeste, das man den Opfern nach einem Krieg erweisen könne. „Was verhindert kommende Kriege besser, als die schonungslose Offenlegung dieses Krieges?“, fragt Jergović.

Die 21-jährige Berina ist über die bosnische Demokratische Jugendbewegung zu der Initiative gestoßen. Sie stammt aus Sarajevo und wurde 1990 geboren. Ihr Unterschriftenstand befindet sich nur wenige Meter entfernt von einem Brunnen, der an die während der Belagerung getöteten Kinder erinnert – Jungen und Mädchen ihres Jahrgangs. An vielen Orten in Bosnien ist der Krieg noch präsent, stehen bis heute Ruinendörfer, stumme Mahnmale der „ethnischen Säuberungen“.

Die meisten REKOM-Aktivisten sind wie Berina und ihre Freundinnen Kinder des Krieges – zu jung, um sich zu erinnern, aber aufgewachsen in Familien, die bis heute unter der Vergangenheit leiden. Sie leben in einem Land, das infolge des Krieges stagniert: Drei Viertel ihrer Altersgenossen würden am liebsten auswandern. Berina hofft, dass die Vergangenheitsbewältigung auch die Situation in Bosnien verbessert. „Vielleicht haben wir eher Erfolg damit, weil wir jünger sind“, sagt ihre Freundin Mia. Kritik kommt vor allem von Veteranenverbänden und aus konservativen Kreisen, unter anderem, weil REKOM mit Spenden ausländischer Organisationen finanziert wird.

Lauter als die Kritiker sind jedoch prominente Unterstützer: Religionsführer, TV-Moderatoren und Politiker haben unterschrieben. „Es ist nicht gut, die Tatsachen unter den Teppich zu kehren“, sagte das bosnisch-kroatische Präsidentschaftsmitglied Zeljko Komšić bei der Unterzeichnung. Er hat die Petition persönlich entgegengenommen, anders als seine Kollegen in Mazedonien, Serbien und im Kosovo

REKOM-Gründerin Nataša Kandić lässt sich davon nicht abschrecken. Sie glaube, dass REKOM Wirklichkeit werde, sagt sie in einer Erklärung. „Den Prozess kann niemand aufhalten.“ Nach der Unterschriftensammlung geht die Initiative jetzt in ihre letzte Phase: Aus der Bürgerrechtsbewegung soll eine Institution werden. Kandić hofft, dass die politischen Voraussetzungen dafür bis Ende 2012 geschaffen werden. Die ersten REKOM-Kommissionen erwartet sie 2013.


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