Polen

Die Europa-Enthusiasten

Um den Kulturpalast in Warschau flattern lilafarbenen Flaggen. „EURO“ steht in großen weißen Buchstaben darauf. Sie werben für die im kommenden Jahr anstehende Fußball-Europameiserschaft, die Polen zusammen mit der Ukraine austragen wird. Zur gleichen Zeit zimmern Handwerker am Kulturpalast insgesamt drei Bühnen zusammen, auf denen Warschau am kommenden Freitag die Übernahme des Vorsitzes der Europäischen Union feiern wird.

„Was denn für eine Präsidentschaft?“, entgegnet der Ordner auf die Frage, wofür die Bühnen eigentlich seien. „Na, die EU-Präsidentschaft“, belehrt ihn sein Kollege. „Das wird eine ganz große Party!“

Am 1. Juli tritt Polen zum ersten Mal den Vorsitz innerhalb der Europäischen Union an. Ein halbes Jahr wird Ministerpräsident Donald Tusk die Treffen der Europäischen Regierungsschefs leiten und nach Kompromissen suchen. Keine leichte Aufgabe, denn die EU steckt angesichts der drohenden Griechenland-Pleite und der Streitigkeiten über den Einsatz im Libyen-Konflikt in einer schweren Krise. Die polnische Ratspräsidentschaft wird zudem die Verhandlungen für den neuen langfristigen EU-Haushalt eröffnen müssen und sich für eine Öffnung der Union gegenüber den östlichen Nachbarländen einsetzen. Konflikte sind bei allen Themen programmiert.

Von Europamüdigkeit merkt man in Polen dagegen nichts. Auch wenn die EU-Ratspräsidentschaft im öffentlichen Bewusstsein nicht so stark verankert ist wie die anstehende Fußball-EM 2012: Die Polen sehen ihre Mitgliedschaft in der Europäischen Union weitaus positiver als ihre Nachbarn. Über zwei Drittel (77 Prozent) finden, dass ihr Land von der EU-Mitgliedschaft profitiert. In den anderen Mitgliedsstaaten liegt die Zustimmung nur bei 53 Prozent.

„Die Zustimmung zur EU war schon unter der europakritischen Kaczynski-Regierung enorm hoch“, sagt die Wissenschaftlerin und Regierungsberaterin Agnieszka Lada vom Institut für Öffentliche Angelegenheiten in Warschau. „Egal, welche Meinung die Politiker vertreten: Die polnische Bevölkerung ist EU-enthusiastisch.“

Viele Polen haben von der EU-Mitgliedschaft nämlich persönlich profitiert. Nach dem Beitritt vor sieben Jahren machten sich rund eine Million Polen auf den Weg nach Großbritannien und Irland, die ihre Arbeitsmärkte als erste für die Osteuropäer geöffnet hatten. Bis heute arbeiten rund 600.000 polnische Bauarbeiter, Krankenschwestern und Ärzte im EU-Ausland und verdienen dort gutes Geld. Aber auch die Daheimgebliebenen profitieren von dem Beitritt – vor allem von den milliardenschweren Fördergeldern aus Brüssel für Landwirtschaft und Infrastruktur.

Mittlerweile entscheiden sich immer mehr Polen, in die Heimat zurückzukehren. Wie Agnieszka und Jan, die jahrelang in London kellnerten. Mit dem Geld kauften sie sich nun eine Wohnung in einem angesagten Viertel am Danziger Ostseeufer. Beide sind voller Optimismus: Agnieszka hat eine Stelle als Grafikerin in einem Immobilienbüro bekommen, Jan arbeitet als Investitionsberater in einer Bank. „Endlich können wir in unseren Berufen arbeiten“, freut sich das Paar.

Die positive wirtschaftliche Entwicklung überrascht selbst viele Polen. Seit dem EU-Beitritt sinkt die Arbeitslosigkeit, die Kauflust steigt. Selbst im Krisenjahr 2009, als alle anderen EU-Staaten in die Rezession abrutschten, wuchs die polnische Wirtschaft kräftig weiter. Überall im Land entstehen riesige Einkaufszentren, ganze Stadtviertel werden saniert.

Einziger Wermutstropfen sind die schleppenden Vorbereitungen auf die Fußball-EM 2012. Zehntausende Fans aus ganz Europa werden erwartet, zwei von vier Stadien sind aber noch nicht fertig. Vor kurzem sprang auch noch die chinesische Baufirma für die dringend benötigte Autobahn nach Warschau ab. Der Stressforscher Konrad Maj von der Warschauer Hochschule für Geistes- und Sozialwissenschaften konstatiert bei seinen Landsleuten einsetzendes Fracksausen. „Bei den Polen schaltet sich ein kulturell tief eingeprägtes Programm der Gastfreundschaft ein. Bekomme ich Besuch, räume ich mein Haus auf und biete dem Gast das Beste an“. Doch was im eigenen Haus funktioniere, sei bei einem ganzen Land ein hoffnungsloses Unterfangen: So massenhaften Besuch hatte Polen in Friedenszeiten noch nie. Die Angst ist groß, sich zu blamieren.

Gleichwohl, so Konrad Maj, seien die Chancen enorm. Wie die Deutschen beim „Sommermärchen 2006“ auf spielerische Weise ihren Nationalstolz wiederentdeckten, so hätten die Polen durch die EURO 2012 die Chance, ihre katastrophenorientierte kollektive Identität durch ein intensives positives Gemeinschaftserlebnis zu überwinden. In Einklang und auf Augenhöhe mit den Nachbarn.

Außenpolitisch macht der liberale Regierungschef Donald Tusk Boden gut. Der im vergangenen Jahr bei einem Flugzeugunglück tragisch ums Leben gekommene Präsident Lech Kaczynski hatte seine europäischen Partner oft mit nationalistischen Äußerungen und Blockaden brüskiert; Donald Tusk und seine Minister sind dagegen nun durch die EU-Staaten gereist, haben Kontakte geknüpft und für Kompromisse geworben. Auch zum Nachbarn Deutschland ist das Verhältnis so gut wie nie: Zum 20. Jahrestag des deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrages Mitte Juni würdigten Bundeskanzlerin Angela Merkel und Donald Tusk die Beziehungen als „Beispiel für ganz Europa“.

Die nationalkonservative Opposition unter Parteichef Jaroslaw Kaczynski versucht dagegen, Stimmung gegen Tusks Kompromiss-Kurs zu machen. Gerade bei diesem Thema bekommt Regierungsberaterin Agnieszka Lada Bauchschmerzen. „Wir Experten haben den polnischen Politikern schon vor Monaten empfohlen, sich zusammen zu setzen und zu beraten. Das haben sie bisher nicht gemacht. Die Opposition kritisiert schon jetzt, dass Tusk zu wenig die polnischen Interessen berücksichtigt. Man darf während dieser Zeit nicht an sich selbst denken. Man muss Maßnahmen ergreifen, die gut sind für Europa.“


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