Estland

Ostsee: Ein Tunnel für Talsinki

„Zur Arbeit pendeln mit Blick auf die Ostsee – wer hat das schon?“ Jaak Raid blinzelt durch die Scheiben der Expressfähre hinaus auf den Finnischen Meerbusen. Die See ist ruhig, der Himmel klar. Das Boot hat um neun Uhr im Hafen von Tallinn die Leinen losgemacht. „Bei dem Wetter sind wir pünktlich um halb elf in Helsinki“, freut sich der estnische Banker, der mit seinem Kollegen Andrus Uudmae einen der begehrten Fensterplätze ergattert hat. „Wir sind mehrmals im Monat in Helsinki, unsere Bank hat dort eine Niederlassung“, erzählen die beiden Geschäftsleute hinter den Bildschirmen ihrer Laptops. „Für uns ist das wie Busfahren.“

Bauarbeiter, Handwerker und Busfahrer: Die Fähre ist voll von Menschen, die von einer Hauptstadt zur anderen zur Arbeit fahren. Bis zu 400.000 Menschen pendeln jeden Monat zwischen den beiden 80 Kilometer entfernten Hauptstädten. Im Sommer, wenn die Tagestouristen dazu kommen, sind die bis zu 40 Fähren pro Tag oft ausgebucht. Estnische Staatsbürger haben neuerdings sogar die russischen Immigranten als größte Ausländergruppe in Finnland abgelöst: Knapp 30.000 Esten leben und arbeiten laut finnischer Registrierungsbehörde dauerhaft im Großraum Helsinki. Seit ihr Land 2010 dem kontrollfreien Schengenraum beigetreten ist, müssen die Esten auch keine Pässe mehr vorzeigen, wenn sie die Grenze überqueren. Seit Estland in diesem Jahr den Euro eingeführt hat, sind die Ländergrenzen fast vollständig verwischt. Finnen und Esten nennen ihre Region deshalb scherzhaft „Talsinki“, in Anlehnung an den estnischen Schriftsteller Jaan Kaplinski, der den Begriff in einem Essay Anfang der 90er Jahre geprägt hatte.

Einfahrt in den Hafen von Helsinki / Christoph Kersting, n-ost

Während die Expressfähre noch auf dem Weg Richtung Helsinki ist, hat Annika Funu-Cracker am Zielort schon die Hälfte ihrer Frühschicht hinter sich. Die 39-jährige Krankenschwester arbeitet seit 2007  in Helsinki. Zuerst in der ambulanten Pflege, seit einigen Monaten auf der Reha-Station des Herttoniemi-Hospitals im Osten der Stadt. „Ich vediene hier ungefähr das Dreifache: 2.500 statt 800 Euro in Estland“, erzählt Annika während einer Dienstpause im Stationszimmer.

Wegen des nach wie vor deutlichen Gehaltsgefälles sind es bislang vor allem finnische Führungskräfte, die den umgekehrten Weg einschlagen und sich in Estland Arbeit suchen. Leo Lindell etwa verdient als Manager in einem Tallinner Vier-Sterne-Hotel sein Geld. „Tallinn ist sehr viel dynamischer als Helsinki“, sagt Lindell. Ihm fiel die Umstellung nicht schwer. Estnisch habe er innerhalb von drei Monaten gelernt, „und obwohl ich im Ausland bin, lebe ich nicht weit entfernt von meiner Familie in Finnland“.

Noch näher zusammen rücken sollen Tallinn und Helsinki nun durch einen Eisenbahntunnel unter der Ostsee. Das zumindest ist die Vision von Ingenieuren, Verkehrsexperten und Politikern auf beiden Seiten des Finnischen Meerbusens. Ein ambitioniertes Projekt: Mit rund 90 Kilometern Länge wäre der Tunnel der mit Abstand längste seiner Art weltweit – fast doppelt so lang wie der Eurotunnel beispielsweise, der auf 50 Kilometern Länge unter dem Ärmelkanal verläuft. Laut einer von der estnischen Regierung in Auftrag gegebenrn Studie würden sich die Kosten für das Mammutprojekt auf drei Milliarden Euro belaufen.

Das ansonsten als moderat und tolerant geltende Finnland hat Mitte April die rechtspopulistischen „Wahren Finnen“ zur stärksten Oppositionspartei gewählt, der weltgrößte Hersteller von Mobiltelefonen Nokia ist angeschlagen – nicht gerade die besten Voraussetzungen, um für ein visionäres Verkehrsprojekt unter der Ostsee zu werben. Dennoch hat die Tunnel-Idee für viele ihren Reiz. „Das ist technisch machbar, und ich halte das für kein Hirngespinst“, sagt etwa Roope Mokka. Der Soziologe und Zukunftsforscher ist Gründer des Demos-Institus in Helsinki, das Zukunftsmodelle urbaner Räume untersucht und entwirft. „In zehn Jahren könnte der Tunnel gebaut werden.“ Entscheidend seien dabei die steigenden Benzinpreise, die Auto und Flugzeug als Transportmittel gegenüber der Bahn immer teurer machten. Und die Frage, ob Russland seine Visa-Pflicht gegenüber der EU aufheben wird und so ganz neue Verkehrsaufkommen entstünden.

Auch für das beim Tunnelbau anfallende Gestein haben Architekten der Universität Helsinki schon einen Verwendungszweck gefunden: Mit dem ausgehobenen Material ließe sich mitten in der Finnischen Bucht eine künstliche Insel aufschütten, auf der 20.000 Menschen leben könnten und die natürlich auch einen besonderen Namen tragen würde: Talsinki.

Auch die Banker Jaak Raid und Andrus Uudmae haben von der Tunnel-Idee gehört, sind da aber eher skeptisch: „Wer soll das bezahlen?“ Wenn sie am selben Abend ihre Termine in Helsinki erledigt haben, fahren sie ganz profan zurück nach Tallinn, übers Meer, mit der Fähre über die Ostsee.


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