Noch ein Jahr bis zur EM 2012
Die Sonne brennt auf Saschas Kandibas Haut. Gebückt sitzt er auf einer Treppe und kleistert eine Rille mit grauer Farbe zu. Es hat 28 Grad. An seiner Schläfe bilden sich Schweißtropfen, es sind nicht die ersten an diesem Tag. Der 27-Jährige ist Bauarbeiter im „Olympischen Stadion“ von Kiew. Hier soll unter anderem das Endspiel der Fußball-Europameisterschaft 2012 stattfinden.
Noch ist das Stadion eine Baustelle. „Bis Oktober wird es fertig sein“, versichert hingegen Vizepremier Borys Kolesnikov, der gleichzeitig die Nationale Agentur leitet, die sich um die Ausrichtung der EURO 2012 in der Ukraine kümmert.
Bauarbeiten am Stadion in Kiew / Dagmar Gester, n-ost
Dafür rackern Sascha und 2.000 weitere Bauarbeiter täglich von morgens bis abends. Sie schweißen, baggern, bohren, spachteln und streichen. Der Entwurf für das neue Stadion kommt vom Hamburger Architekturbüro Gerkan, Marg und Partner (gmp). „Die Membran ist einzigartig in Europa“, schwärmt Alexandra Grytsenok, die Pressesprecherin des Stadions. Vor einer Woche kamen die ersten Lieferungen des Wundermaterials an – es soll nicht nur feuerresistent und semitransparent sein sondern insbesondere auch selbstreinigend. Dick verpackt lagert die Kunststoffhülle vor dem Eingang. Auf rund 50.000 Quadratmeter wird sie sich ausbreiten und gebrochenes Sonnenlicht auf den Rasen leiten.
Eigentlich sollte das Stadion die taiwanesische Firma Archasia Design Group bauen. Ihr wurde aber vor drei Jahren der Vertrag „wegen mangelnder Erfahrung im Baugewerbe“ gekündigt. Der Entwurf von Gerkan, Marg und Partner sieht einen Umbau des alten Stadions vor. Doch der gestaltet sich komplizierter als gedacht.
Die Bauarbeiten am Stadion in Kiew dauern an / Dagmar Gester, n-ost
Die Fußball-EM wird in vier ukrainischen Städten ausgetragen. In den beiden Städten Donezk und Charkow sind die Stadien bereits vollendet – in Kiew und Lemberg noch nicht. Selbst die Kiewer Bürger sind skeptisch, ob ihr Stadion dieses Jahr eröffnet werden kann. Stadionsprecherin Grytsenok sagt: „Ich weiß, dass viele kritisch sind, aber im Inneren sind sie froh über die EURO 2012, weil auch noch ihre Kinder etwas von diesem Stadion haben werden.“
Die künftige Generation wird allerdings vor allem mit den Schulden, die jetzt aufgenommen werden, zu kämpfen haben. Ursprünglich wurden die Kosten allein für das Kiewer Stadion auf 200 Millionen Euro veranschlagt, inzwischen haben sich die Kosten verdoppelt: Aktuelle Schätzungen liegen bei knapp 400 Millionen Euro. Ob auch Korruption im Spiel ist, lässt sich wie immer nicht nachweisen. „Fakt ist, das Stadion ist zu 87 Prozent fertig“, erklärt Stadionsprecherin Alexandra Grytsenok. Und lächelt leicht verunsichert.
„Es interessiert doch niemanden, ob jetzt 70, 80 oder 90 Prozent fertig sind“, ärgert sich Souvenirverkäufer Anatoli, „wichtig ist einzig und allein, dass die Leute genug haben, um am Ende des Monats zu überleben.“ Die Ukraine gehört mit einem Durchschnittseinkommen von 220 Euro zu den ärmsten Ländern Europas. „Durch die Fußball-Europameisterschaft kommen mehr Touristen, das ist natürlich gut fürs Geschäft“, sagt Anatoli, „aber sie kommen nur für einen Monat.“ Der Kiewer Souvenirverkäufer ist skeptisch, dass sich durch die Europa-Meisterschaft etwas dauerhaft ändern wird. Sein Standnachbar Sergei sieht das anders: „Das ganze Land freut sich auf diese Spiele – und ich tue es auch.“ Um Tickets will sich Sergei demnächst auch noch kümmern, schließlich sieht er die ukrainische Nationalmannschaft auf einem der ersten drei Plätze.
Souvenirs zur EM 2012 in Polen und der Ukraine werden bereits jetzt verkauft / Dagmar Gester, n-ost
So optimistisch ist Oleg Zasady nicht. Er koordiniert das EM-Büro in Lemberg (Lwiw) im Westen der Ukraine, nur wenige Kilometer von der polnischen Grenze entfernt. Der 46-Jährige glaubt weniger an das ukrainische Fußballteam als an seine Stadt Lemberg. „In erster Linie wollen wir dafür sorgen, dass sich die Bedingungen für die Menschen vor Ort verbessern.“ Das heißt Investitionen ins Straßennetz, in ein neues Flughafenterminal und natürlich in ein neues Stadion. Die Kosten für das Stadion belaufen sich auf etwa 140 Millionen Euro. Nach der EURO 2012 soll es vor allem vom heimischen Fußballverein FC FC Karpaty Lwiw genutzt werden, der im vergangenen Jahr in der Europa League gegen Borussia Dortmund gespielt hat.
Im Herzen von Lemberg, nur wenige Gehminuten vom Opernhaus entfernt, liegt das traditionsreiche Hotel George. Es wurde 1781 eröffnet und gehört damit zu den ältesten Hotels in der Ukraine. Vor einem Jahr wurde es renoviert, so dass die meisten Zimmer nun Bad und Toilette auf dem Zimmer haben – und nicht im Gang. Die 23-jährige Anastasia Kerechan managt das „George“, in dem bekannte Persönlichkeiten wie Honoré de Balzac, Franz Liszt und Jean-Paul Sartre genächtigt haben: „Wir sind sehr glücklich über die EM, die Spiele werden uns viele neue Möglichkeiten für die Zukunft eröffnen und unsere Stadt bekannter machen.“
Bauarbeiten am Stadion in Kiew/ Dagmar Gester, n-ost
Jedes Jahr kommen rund eine Million Touristen nach Lemberg, die meisten von ihnen aus Polen, der Ukraine und Deutschland. Allein im EM-Monat Juni rechnet man mit 400.000 Touristen zusätzlich. Dafür werden jedes Jahr bis zu acht neue Hotels errichtet, und zwar für jeden Geldbeutel. Auch im Hotel George reicht die Spanne für eine Nacht von 35 bis 90 Euro. „Wenn die EM läuft, werden wir die Preise natürlich anheben“, sagt Hotelmanagerin Kerechan, „aber so, dass es sich immer noch jeder leisten kann“.
Die ukrainische Regierung rechnet für die Fußball-Europameisterschaft mit Kosten von rund zehn Milliarden Euro. Der Nachbar Polen, das ebenfalls die EM ausrichtet, steht mit 21 Milliarden Euro das Doppelte zur Verfügung. 40 Prozent davon, also 8,4 Milliarden Euro, kommen aus dem Topf des EU-Strukturfonds. „Diese Unterstützung fehlt uns, weil wir nicht Mitglied in der Europäischen Union sind“, sagt Direktor Oleg Zasady nüchtern, „aber wir machen trotzdem das Beste daraus, denn diese EM bringt unser Land einen wichtigen Schritt nach vorn – in Hinblick auf Infrastruktur, Tourismus und vor allem Investoren.“ Auf die Frage, ob alles rechtzeitig fertig sein wird, antwortet er selbstbewusst: „Es wird knapp, vor allem bei den Straßen, aber wir werden es schaffen. Ganz sicher.“