Polen

Die Kinder des Warschauer Ghettos

Der Brief war ein verzweifelter Versuch. „Ich bin als Kind im Koffer aus dem Warschauer Ghetto geschmuggelt worden. Der Mann, der mich gebracht hat, nannte mich Pola. Er kam nie wieder. Niemand kennt meinen Nachnamen. Wer bin ich?“

Im Jahr 1994 schickte Teresa Wieczorek diese Zeilen an Zeitungs- und Rundfunkredaktionen auf der ganzen Welt. Je mehr Briefe, desto größer war die Hoffnung, dass sie etwas über ihr erstes Leben erfahren würde, das Leben „vor dem Koffer“, erklärt Teresa. Als sie noch nicht Teresa hieß. Im ersten Leben war sie Jüdin. Das ist das einzige, was wirklich sicher über sie ist.


Falsche Papiere, falscher Name, falsches Geburtsdatum

Vor dem Krieg lebten über drei Millionen Juden in Polen. Im Zweiten Weltkrieg sperrten die Nazis sie in Ghettos. Das größte Ghetto befand sich in Warschau: Zeitweise lebten hier bis zu 400.000 Juden, bis die deutschen Besatzer sie weiter in die Konzentrationslager deportierten und dort ermordeten. Auch Teresa und ihre Familie lebten im Ghetto.

Doch ihre Eltern schafften es, ihr Kind zu retten: Mit falschen Papieren schmuggelten sie Teresa aus dem Ghetto und brachten sie bei einer Gastfamilie unter. „Die Gefahr war groß“, sagt Yale Reisner, Historiker am Jüdischen Historischen Institut in Warschau. „Jegliche Hilfe für Juden wurde mit dem Tod bestraft: die Helfer, deren Familien oder sogar die Nachbarn“.

Teresa Wieczorek wurde als Kind aus dem Warschauer Ghetto geschmuggelt / Agnieszka Hreczuk, n-ost
Teresa Wieczorek / Agnieszka Hreczuk, n-ost

Als Teresa herausfand, dass sie Jüdin war, war der Krieg schon drei Jahre vorbei. Im Jahr 1948 erfuhr sie es zufällig von einer Nachbarin. „Ja, wir haben dich aufgenommen und versteckt“, sagte auch ihre Mutter schließlich. Und fügte hinzu, dass sie Teresa wie eine Tochter liebe. An diesem Tag hörte Teresa auch von ihrem früheren Vornamen Pola.


Teresas Eltern starben im Aufstand

Der Mann, der sie so nannte, kam durch einen geheimen Kanal, der das Ghetto mit einem Betriebsbahnhof auf der anderen Seite verband. Er brachte den Koffer mit dem Mädchen zu der Familie Ciarkowski. Kazimierz Ciarkowski war Arbeiter und außerdem Mitglied der Heimatarmee, der größten polnischen Widerstandsorganisation in Polen. Das Mädchen hatte einen zugeklebten Mund und schlief. Der Mann sagte, er müsse zurück, um den Rest seiner Familie zu retten. Doch dann brach am 19. April 1943 der Aufstand im Ghetto aus. Einen Monat kämpften die Bewohner gegen die übermächtige deutsche Wehrmacht – ohne Erfolg. Am 18. Mai 1943 waren nahezu alle Aufständischen getötet, das Ghetto abgebrannt, die Synagoge gesprengt. Auch Teresas Eltern kamen nicht wieder.

Teresa ist mittlerweile Anfang, Mitte 70. Ihr Geburtsdatum kennt sie nicht. Sie ist eine gepflegte Frau mit blauen Augen und blondierten Haaren. Vor ihr auf dem Tisch liegt ein Schwarz-Weiß-Foto: Zwei kleine Mädchen stehen am Zaun. Das ältere lächelt, das jüngere schaut scheu weg. Teresa. Das erste Foto, das sie von sich hat. Familie Osiejewski, deren Tochter neben ihr auf dem Foto steht, war ihre zweite Unterkunft. Oft blieb Teresa nur eine Woche lang in einem Versteck, dann musste sie weiter. Nachbarn und dem Umfeld stellte man sie als Verwandte vor. Dann kam sie wieder zu den Ciarkowskis.

„Am 7. Mai 1943 brachte Kazimierz Ciarkowski, Arbeiter, ein Mädchen, geboren am 23. Dezember 1939 aus der Ehe mit Kazimiera, um sie unter den Namen Teresa zu taufen.“ Teresa zeigt den Taufschein. Das erfundene Geburtsdatum, Unterschriften der Pateneltern. Eine neue Identität, die das kleine Mädchen vor dem Holocaust retten sollte. In Warschau stellten mehrere Pfarrer die falschen Scheine aus. Viele hielten es für ihre patriotische Pflicht, den verfolgten Juden zu helfen.


Ihre Herkunft war lange ein Tabu

„Kinder wurden auf verschiedenen Wegen gerettet“, erzählt Yale Reisner. „Einige wurden bei christlichen Bekannten in Obhut gegeben, andere beim Transport ins Konzentrationslager von den Eltern aus dem Zug geworfen und von guten Menschen gefunden.“ Oder durch die polnische Untergrundbewegung gerettet. Irena Sendler von der Heimatarmee holte insgesamt 2.500 Kinder aus dem Warschauer Ghetto. „Um ein jüdischen Kind zu retten, brauchte man zehn gute Menschen“, sagt sie. Leute, die es herausholten, die immer wieder neue Verstecke organisierten, die Papiere ausstellten, das Geld fürs Essen besorgten, und das Kind bei sich unterbrachten.

Zum ersten Mal offenbarte Teresa ihrem Verlobten, dass sie Jüdin ist. „Darüber wurde einfach nicht gesprochen“, begründet sie ihr langes Schweigen auch vor sich selbst. Teresa sprach nicht, suchte auch nicht weiter. Sie kannte keine Details. Denn je weniger die Helfer über das Kind wussten, desto sicherer war es während des Krieges. Ein Mann, der den Schmuggel durch den Betriebsbahnhof dokumentierte, wurde erschossen. Mit ihm gingen die Dokumente aller Kinder, die auf diese Weise gerettet wurden, verloren.

Einmal zwang Teresa ihre Adoptivmutter, sie zum Jüdischen Historischen Institut zu begleiten. Frau Ciarkowska sollte bezeugen, dass ihre Tochter Jüdin war. „Ich habe kein Groschen für dich genommen, habe dich geliebt, und du willst zurück zu ihnen?“, fragte sie Teresa vorwurfsvoll.

1990 las Teresa einen Artikel über einen Verein der Holocaustkinder. Es dauerte Monate, bis sie sich traute, sich zu melden. Doch als sie es wagte, traf sie Dutzende. Alle wurzellos, wie sie. „Ich konnte nicht glauben, dass es so viele von uns gab“, sagt sie. Und erinnert sich an ihr Gefühl damals: „Ich habe eine Familie!“


Die Holocaustkinder treffen sich in einem Verein

700 Menschen sind inzwischen im polnischen Verein der Holocaustkinder versammelt. Zwanzigmal so viele wie im Jahre 1991. Obwohl viele ehemalige Kinder schon gestorben sind, kommen ständig neue hinzu. „Viele wussten nicht, dass sie Juden sind. Die Adoptiveltern wollten sie schützen oder hatten Angst, sie zu verlieren“, sagt Yale Reisner. Andere wussten es zwar, aber konnten sich damit nicht abfinden. Erst ihre Kinder helfen ihnen dabei. Es gibt auch solche, die nie die Wahrheit erfahren werden. Sie wuchsen als Katholiken auf und leben so weiter.

1994 fuhr Teresa nach Israel. Sie besuchte die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. Sie schloss sich an ein Gebet für Kinder an, die im Holocaust umkamen. „Ich hoffte, ich würde einen bekannten Name hören“. Plötzlich kam ihr ein Gedanke: „Mein Name könnte auch vorgelesen werden. Wer kann wissen, dass ich lebe?“

Sie schrieb den Brief. Ein israelischer Sender drehte einen Film über sie. „Wir sind verwandt“, hieß es plötzlich am Telefon. Es rief ein Mann aus Warschau an, dessen Familie seit Jahren nach einer Cousine aus Warschau suchte. Das Mädchen auf seinem Foto sei Teresa verblüffend ähnlich gewesen. Dann kam die Enttäuschung. Die DNA-Analyse schloss die Verwandtschaft aus. „Es war zu viel für mich“, ihre Stimme zittert wieder. „Ich wollte nie wieder suchen.“

Doch immer wieder passieren kleine Wunder. „Manchmal melden sich Leute, die ihr ganzes Leben dachten, sie seien die einzigen Überlebenden aus der Familie“, erzählt Yale Reisner. Wie vor kurzem ein Mann aus Australien. Wenige Monate später kam eine fast identische Nachfrage aus Venezuela. Nach über 60 Jahren fanden sich die Brüder wieder. „Keine Anfrage ist für uns abgeschlossen, solange wir den Menschen zumindest einen Bruchteil ihrer Identität zurückgegeben haben.“

Teresa gab ihre Suche doch nicht auf. Vor mehreren Jahren sagte ihr jemand, der auch in der Sierakowska-Straße lebte, er kenne ihre Geschichte. Teresas Vater sei Arzt gewesen. Sie sucht weiter: „Vielleicht bin ich eines Tages nicht mehr wurzellos.“


Weitere Artikel