Vorreiter bei der Wasserkraft
Mit ohrenbetäubendem Lärm rauscht das Wasser durch Orvils Hennings Wasserkraftwerk. Mehrmals am Tag schreitet der 65-jährige Lette das Staubecken ab, um die Schleuse von Gräsern und kleinen Ästen zu befreien. Unter dem wuchtigen Natursteinbau liegt eine Turbine, die von dem rauschenden Wasser angetrieben wird und Strom erzeugt. Orvils Hennings reguliert über sein Mobiltelefon geschäftsmännisch die Wasserzufuhr. Seit 20 Jahren versorgt er mit seinem kleinen Wasserkraftwerk 60 Haushalte in der lettischen Provinz am Fluss Berze, südwestlich von Riga. Er ist einer von vielen aufstrebenden lettischen Unternehmern, die Europas Energiewirtschaft umkrempeln und Vorreiter in Sachen erneuerbare Energien sind.
Vom Ingenieur zum Stromproduzenten
Hennings Wasserwerk ist ein typisches Beispiel dafür, wie tief die Wasserkraft in Lettland verwurzelt ist. In den 1920er Jahren bauten seine Großeltern den Betrieb auf und schlossen auch eine Mühle an, die mit Wasserkraft betrieben wurde. Zu Sowjetzeiten wurde das Kraftwerk verstaatlicht. Seit der Unabhängigkeit Lettlands vor 20 Jahren ist das Wasserkraftwerk wieder in Familienbesitz mit Orvils Hennings als Geschäftsführer: „Das Kraftwerk war völlig verwahrlost, die Turbinen hatten jahrelang im Schlamm gelegen. Ich aber wollte es neu aufbauen und ins Stromgeschäft einsteigen.“ Orvils Hennings trägt eine derbe Jacke und hat sein graues Haar unter einer Schirmmütze versteckt. Orvils Hennings ist gelernter Ingenieur. Der kräftige Händedruck verrät allerdings, dass er auch mal selbst Hand anlegt. Seit Lettlands Unabhängigkeit hat es Orvils Hennings zum Stromproduzenten gebracht.
Es sei für ihn eine Ehrensache gewesen, sagt Orvils Hennings, die Geschäfte seiner Urgroßeltern fortzuführen. Denn nach einem halben Jahrhundert unter sowjetischer Vorherrschaft wollte er, wie viele Letten, wieder zurück zur lettischen Natur. Während der so genannten singenden Revolution habe deshalb gerade die grüne Umweltbewegung eine große Rolle in Lettland gespielt. „Moskau war für uns das Symbol der Umweltzerstörung“, meint Orvils Hennings, „aber wir wollten wieder, wie unsere Großeltern, im Einklang mit der Natur leben.“ Während viele lettische Kleinbauern damals den Schritt in die biologische Landwirtschaft wagten, sah Orvils Hennings damals seine Zukunft in der erneuerbaren Energie.
Unabhängig dank eigener Wasserkraft
Noch zu Sowjetzeiten wurde 1965 am großen Daugava Fluss ein riesiges Kraftwerk in Betrieb genommen, das bis heute 38 Prozent des gesamten Strombedarfs in Lettland produziert. Hinzu kommen 2 Prozent der kleinen Wasserkraftwerke und 2 Prozent aus Biogas und Wind. Die weiteren 58 Prozent musste Lettland sowohl aus den Nachbarstaaten Estland, Litauen und Russland importieren, als auch in Verbrennungskraftwerken herstellen, die mit Erdgas und Schweröl aus Russland betrieben werden. Deshalb regte der Staat nach der Unabhängigkeit die Renovierung dieser kleinen Wasserkraftwerke an und vergütete acht Jahre lang jede eingespeiste Kilowattstunde mit dem doppelten Stromtarif. Hennings Betrieb profitierte von diesen staatlichen Maßnahmen: „Mit diesen Einnahmen konnte ich die Mühle des Kraftwerks renovieren und das Dach erneuern. Heute erhalten wir für jede Kilowattstunde den regulären Tarif.“
Inzwischen sind in Lettland 142 der kleinen Wasserkraftwerke in Betrieb. „Eine beachtliche Zahl“, meint Valdis Bisters, der im lettischen Umweltministerium Strategien für eine rentable Energiepolitik entwirft. „Die Renovierung der kleinen Wasserkraftwerke hat auch das Bewusstsein der Leute vor Ort verändert und den Letten die Augen für erneuerbare Energie geöffnet“, sagt Valdis Bisters. Gleichzeitig sichert die Kleine Wasserkraft die Stromversorgung auch in entlegenen Regionen.
Auch Offshore-Anlagen sind geplant
Die Energiegewinnung durch Wasserkraft ist aber erst der Anfang. Lettland habe noch weitere Potentiale in Sachen Energiegewinnung, meint Bisters. Die ersten Windparks an Land decken heute knapp 2 Prozent des lettischen Strombedarfs ab. Das Umweltministerium plant außerdem Offshore-Anlagen in der Ostsee zu bauen.
Gleichzeitig forschen lettische Wissenschaftler schon seit Jahren, wie man aus Holzabfällen Strom gewinnt. Denn Lettland besteht zu 45 Prozent aus Wald. Zur reinen Wärmegewinnung werden bereits heute die Brennöfen in zahlreichen Gemeinden mit Holzchips befeuert. Aber mittlerweile gibt es in der Regierung wieder Stimmen, die die Atomkraft vorziehen – trotz der Katastrophe in Fukushima. Auch die Lobby für Gasnutzung in Lettland ist riesig. Bisters hofft jedoch, dass „wir vor dem Hintergrund der unberechenbaren russischen Gaspreise doch noch eine Lobby für unsere Erneuerbaren gewinnen können“.
Energie aus Wasser, Wind und Sonne
Was für die erneuerbaren Energien in Lettland spricht, sind die Beschlüsse der EU. Bis 2020 sollen die Mitgliedsstaaten nicht nur insgesamt 20 Prozent ihres Energieendverbrauchs aus Erneuerbaren schöpfen, auch die Energie für Transport und Wärme soll aus Wind-, Wasser- oder Solarkraft gewonnen werden. Deshalb erhöht das lettische Umweltministerium die Produktivität der existierenden kleinen Wasserkraftwerke und setzt hier auch neue Technologien ein.
Das freut auch Orvils Hennings. Der Stromproduzent erhält vom lettischen Umweltministerium einen Zuschuss von 150.000 Euro für den Einbau einer neuen Turbine, mit der er gleich doppelt so viel Strom produzieren kann wie heute. Die Gewinne will Orvils Hennings in neue Projekte investieren. Mit einer neuen Ölmühle möchte er Kleinbauern in der Umgebung ermutigen, Sesam oder Rapsöl zu pressen und als Bio-Öl zu vermarkten. Darüber hinaus will er auch den Tourismus in der Region ankurbeln: „Auf dem Dach meines Kraftwerks möchte ich Sonnenkollektoren installieren“, sagt der Stromproduzent. „Im ersten Stock will ich ein Gästehaus und ein Museum für das Müllerhandwerk unterbringen. Und rund um den Fluss habe ich 9 Hektar Wald und Wiesen, da könnten sich die Leute aus der Hauptstadt Riga bestens erholen.“