Litauen

Wolfskinder geben auf

Für weite Teile der Zivilbevölkerung begann mt Kriegsende die Flucht aus den ehemaligen Ostgebieten. Im nördlichen Ostpreußen, rund um die Stadt Königsberg, verloren tausende deutsche Kinder auf der Flucht vor der Roten Armee ihre Eltern. Sie wurden zu Kriegswaisen und erhielten Unterschlupf bei litauischen Familien. Auf Entschädigung hofften sie vergebens. Wie die 70-jährige Luise Quitsch.

„Das Auswärtige Amt lehnt uns ab, das Ministerium für Arbeit und Soziales und sogar das Deutsche Innenministerium. Das ist einfach unmenschlich.“ Luise Quitsch hält inne. Vor der alten Dame liegt eine umfangreiche Sammlung von Briefen und Antwortschreiben. Schon seit Jahren bittet die quirlige kleine Frau in Deutschland um finanzielle Entschädigung: Für das Leid und die gesellschaftliche Ausgrenzung, die deutsche Kriegswaisen in Litauen erleiden mussten. „In meiner Kindheit wurden wir als deutsche Schweine und Faschisten beschimpft“, sagt sie.

Die 70-jährige Luise Quitsch ist selbst ein so genanntes „Wolfskind“. Ein deutsches Waisenkind aus dem ehemaligen Ostpreußen, geboren in Schwesternhof, einem kleinen Dorf  in der Nähe von Königsberg. In den letzten Kriegstagen ermordeten russische Soldaten ihre Mutter.

Eine Tante versuchte mit der fünfjährigen Luise in den Westen zu fliehen. Aber auch die Tante starb bei einem Bombenangriff. Das Mädchen wurde von Rotarmisten gerettet und fand auf litauischem Gebiet in einer Kaserne Unterschlupf. Eine litauische Familie habe sie als deutsches Kind erkannt und zu sich nach Hause geholt, damit sie nicht bei den Soldaten bleiben musste. „Ich wurde sozusagen gemopst von dieser Kaserne. Ganz einfach“, sagt die grauhaarige Frau.

Luise Quitsch wurde von ihrer litauischen Gastfamilie herzlich aufgenommen. Sie durfte zur Schule gehen und studieren, sie arbeitete in der Sowjetrepublik Litauen als Ingenieurin. Die meisten der rund 5.000 deutschen Kriegswaisen hatten weniger Glück und schlugen sich als Tagelöhner oder billige Hilfskräfte in der Landwirtschaft durch. Aber eines betraf sie alle: Ihre deutsche Herkunft war in der damaligen Sowjetrepublik Litauen ein Tabu.

Aus Luise Quitsch zum Beispiel wurde Alfreda Pipiraite. „Wir waren doch Feinde, wir waren Deutsche“, sagt sie. „Deutsche zu sein, das war eine Schande und gefährlich. Darüber sprach man nicht.“ Umso wichtiger ist Luise Quitsch ihr deutscher Pass, den sie seit Litauens Austritt aus der ehemaligen Sowjetunion in Händen hält. Damals fassten die „Wolfskinder“ Mut, an die Öffentlichkeit zu gehen.

244 Deutsche Waisenkinder aus Ostpreußen mussten für den deutschen Pass ihre Identität beweisen. Luise Quitsch kamen auch die Geschwister zu Hilfe, denen die Flucht nach Deutschland gelungen war und die sie mit anderen Verwandten seit Kriegsende gesucht hatten. „Ich bin Luise Quitsch, ich wusste immer, wie ich heiße. Aber manche Wolfskinder, die wissen fast gar nichts, darüber, woher sie stammen oder wie ihr deutscher Name ist.“

Sogar Luises Tochter Kristina hat erst vor 20 Jahren erfahren, dass ihre Mutter eine Deutsche ist. Sie sei froh, dass die Mutter nicht wie andere Wolfskinder nach Deutschland ausgesiedelt sei, sagt Kristina. Luise selbst bereut die Entscheidung manchmal. Denn Unterstützung durch die Bundesrepublik bekommen nur die Wolfskinder, die Litauen verlassen haben und nun in Deutschland leben.

Von den umgerechnet 200 Euro Rente im Monat kann sie ihr Leben in Litauen heute kaum bestreiten. Lange Zeit hatte sie deshalb auf zusätzliche Entschädigung durch die Bundesregierung gehofft. Aber jetzt wolle sie keine Briefe mehr schreiben, sagt die alte Dame enttäuscht, sie habe aufgegeben. „In der Sowjetrepublik Litauen war ich rechtlos und hoffte auf meine Heimat, die weit weg in der Ferne lag. Aber jetzt gibt es in Deutschland keinen einzigen Paragraphen, der uns unterstützen kann.“



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