Unglaube nach dem Bombenterror
Ihr Stimme zittert: „Das ist doch alles Mist“, sagt Anja leise. „Aber die Menschen wissen was los ist in diesem Land, sie kennen die Wahrheit.“ Es ist eine Wahrheit, die aus dem Bauch nicht in den Kopf vordringt. Die nur ein stumpfes Gefühl der Wut vermittelt. Eine Wahrheit, die die sich in Andeutungen ausdrückt und nicht in Aussagen: „Ich schaue nicht fern“, sagt sie. „Alles Lügen, alles Propaganda.“
Wenige Stunden zuvor ist Anjas Mutter nur knapp dem Tod entronnen. Sie war in jenem U-Bahn-Zug, der am Montag im Zentrum Minsks von einer Bombe getroffen wurde. Anja raste mit ihrem Fahrrad ins Zentrum, nachdem ihre Mutter sie panisch angerufen hatte. Sie traf ihre blutverschmierte aber unverletzte, zitternde Mutter dort auf dem Gehsteig sitzend. Über abgetrennte Körperteile und Leichen, durch Rauch war sie ins Freie getaumelt. „Wer macht so etwas?“, fragt Anja. Aber die Antwort, ihre Antwort bleibt im Bauch, kommt über den Kehlkopf nicht hinaus.
Anja ist keine Freundin der belarussischen Regierung. Und ihre Wahrheit gleicht einer Vermutung. Einer diffusen Angst. Anja gibt insgeheim der Regierung die Schuld an dem Blutbad mit 12 Toten und weit über 100 Verletzten in der Minsker Metro vom Montag. Aussprechen würde sie das aber nie. Und sie steht nicht alleine da mit ihrem Bauchgefühl. Die erste Reaktion in den Internetblogs und Foren der Opposition war einhellig – und der ehemalige Präsidentschaftskandidat der Opposition bei den Wahlen vor fünf Jahren, Alexander Milinkiewitsch, sprach aus, was anderen im Hals stecken bleibt: „Der Anschlag nützt denen, die einen Ausnahmezustand im Land und ein Abrücken Belarus‘ vom Westen wollen – und zudem die Opposition verleumden.“
Erinnerungen an den Juli 2008 kommen hoch. Damals, knapp vor den Parlamentswahlen, war bei einem Konzert anlässlich des Nationalfeiertages ein mit Schrauben gespickter Sprengsatz explodiert. 50 Personen waren verletzt worden. Und irgendwie schaffte es das Regime nicht, die hartnäckigen Vermutungen zu zerstreuen, dass es selbst dahinter steckte. Auch nicht, als dann vier angebliche Mitglieder der nationalistischen Untergrundorganisation Weiße Legion festgenommen und abgeurteilt wurden. Und auch nicht, als einige Spitzenbeamte im Staatsapparat wegen angeblicher Verbindungen zur Weißen Legion entlassen wurden.
Auch diesmal ist klar: Es war kein Selbstmordanschlag – wie ähnliche Anschläge in Moskau –, der die Station unter dem Oktoberplatz erschütterte. Offensichtlich war der Sprengsatz mit einer Kraft von fünf bis sieben Kilogramm TNT mit großen Metallkugeln gespickt und unter einer Sitzbank deponiert worden.
Aber es ist vor allem die Reaktion der Staatsmacht auf den jetzigen Anschlag, die die leidgeprüfte belarussische Opposition stutzig macht. Dass der Anschlag ein „Geschenk“ aus dem Ausland sei, man aber auch im eigenen Land suchen müsse, wie Präsident Alexander Lukaschenko es ausdrückte, trägt nicht zur Beruhigung bei. Auch nicht, dass er ausländische Kräfte vermutete, die das Land destabilisieren wollten – womit er eher auf den Westen als etwa den Kaukasus hindeutet. Und noch viel weniger, dass er die gefürchtete Geheimpolizei KGB aufrief, das Land auf der Suche nach den Tätern auf den Kopf zu stellen. Bereits am Dienstag gaben die belarussischen Behörden die Verhaftung mehrerer Verdächtiger bekannt – ohne nähere Angaben zu machen.
Auf den Kopf gestellt worden war das Land bereits im vergangenen Dezember – als Sonderpolizei und KGB die Proteste nach den Präsidentenwahlen niederschlugen und die ohnehin schüttere Infrastruktur der Opposition mit einem Kahlschlag durch die Zivilgesellschaft weiter ausdünnten. Dass zwölf Menschen bei einer Explosion in einem U-Bahn-Schacht mitten im Zentrum der Hauptstadt eines Landes sterben, dessen autoritäre Führung sich vor allem damit legitimiert, Ruhe, Stabilität und Ordnung zu garantieren, passt dabei aber ganz und gar nicht ins bisherige Konzept der Regierung. Zumindest lenkt die Tat aber von der verheerenden Wirtschaftslage ab. Belarus wartet auf einen Milliardenkredit aus Russland. Und zuletzt war es überall im Land aus Angst vor Inflation und Nahrungsmittelknappheit zu Hamsterkäufen gekommen.
Auch sie habe schon Konservendosen eingelagert, erzählt Anja. Und seit Montag Abend dreht sie den Fernseher gar nicht mehr auf - sondern lauscht gemeinsam mit ihrem Mann auf die Geräusche im Treppenhaus, ob nicht schon die Sondereinsatzkommandos des KGB kommen. Das ist ihre Wahrheit.