Die Tschernobyl-Touristen
„Hoffentlich sind bald alle da“, murmelt Maxim Frantschuk und zündet sich eine Zigarette an. Es ist sechs Uhr morgens. Auf einem Parkplatz neben der U-Bahn Station Lukjanowska in Kiew steht ein weißer Minibus. Davor warten fünfzehn Touristen. Sie kommen aus Deutschland, Österreich und den USA, die meisten arbeiten als Diplomaten in der Ukraine. Das Ziel der Reise: Tschernobyl und die Geisterstadt Prypjat.
Mascha öffnet ihren Rucksack, prüft, ob der Fotoapparat auch funktioniert. Mascha kommt aus St. Petersburg. Dort hat sie ihren Ehemann kennengelernt, einen Mitarbeiter des Deutschen Konsulats. Vor einigen Monaten ist das Diplomaten-Ehepaar nach Kiew versetzt worden. „Ich interessiere mich für Fotografie und will in Tschernobyl gute Aufnahmen machen“, sagt Mascha. „Mir ist klar, dass diese Reise gefährlich ist, aber ich will mir die Kulisse nicht entgehen lassen“, ergänzt die 28-Jährige.
John arbeitet als Verwaltungsangestellter in der amerikanischen Botschaft. Er trägt Sportschuhe, Jeans und ein dunkelgrünes T-Shirt. „Ich bin immer nur für ein Jahr in einem Land“, sagt John. „Tschernobyl ist das Erste, was ich mit der Ukraine verbinde.“ John findet nichts besonderes daran, dass die meisten Teilnehmer der Exkursion Diplomaten sind. „Wir sind doch auch nur Menschen und wollen etwas in unserer Freizeit erleben.“ Unter den Touristen sind auch Ukrainer, so wie Igor und seine Freundin Elena. Igor trägt eine Khakihose, schwarzes T-Shirt und Sonnenbrille. „Für uns ist das ein Abenteuertrip“, sagt Igor. Maxim Frantschuk ist Reiseleiter, er begleitet seit vielen Jahren Touristen nach Tschernobyl. Die letzten Reiseteilnehmer treffen ein, es kann losgehen.
Tschernobyl-Touristen in unmittelbarer Nähe des „Sarkophags“
/ André Eichdorfer, n-ost
Die Bustour hat der Diplomatische Service der Ukraine organisiert. Die Behörde kümmert sich um die Belange ausländischer Botschaftsmitarbeiter. „Die Ukraine macht mit den Exkursionen Öffentlichkeitsarbeit“, sagt Reiseleiter Maxim. Zur Verwaltung der Strahlenzone ist die Ukraine auch auf ausländische Hilfe angewiesen. Jährlich sind Millionen Euro notwendig, um Techniker zu bezahlen und um den Betonsarkophag über dem havarierten Reaktor instand zu halten. Westliche Diplomaten seien die ideale Zielgruppe für eine PR-Kampagne. Denn sie könnten bei ihren Regierungen dafür sorgen, dass Tschernobyl nicht in Vergessenheit gerät, meint Maxim. Auch „normale“ Touristen können nach Tschernobyl fahren. Maxim glaubt jedoch nicht, dass der Staat mit Katastrophen-Tourismus Geld verdienen kann. „Die Einnahmen machen nur einen geringen Teil des Geldes aus, das für die Verwaltung der Strahlenzone notwendig ist“, sagt Maxim.
„Eine Reise nach Tschernobyl kostet bei uns zwischen 150 und 200 Dollar“, sagt Elena Kowalenko, Managerin einer Reiseagentur in Kiew. „Die Leute, die bei uns buchen reichen vom typischen Abenteurer bis hin zum Wissenschaftler.“ Ihre Agentur würde jedoch keinen Katastrophen-Tourismus verkaufen. „Auf unseren Reisen vermitteln wie auch Hintergrundinformationen.“ Die Katastrophe im japanischen Atomkraftwerk Fukushima habe noch keine Auswirkungen auf das Geschäft gezeigt. „Wir organisieren alle zwei Monate eine Reise und kommen auf 15 bis 20 Teilnehmer“, sagt die Managerin.
30 Kilometer vor Tschernobyl macht der Bus plötzlich halt. „Wir haben die Sperrzone erreicht“, ruft Maxim. Eine Schranke ist heruntergeklappt, am Straßenrand steht ein Schild mit einem Atomwarnzeichen. Polizisten betreten den Minibus, die Reisepässe werden kontrolliert. Als die Fahrt nach zehn Minuten weitergeht, gibt Maxim der Reisegruppe Sicherheitshinweise. Zum Schutz vor der Strahlung dürfen die Touristen ab jetzt keine mitgebrachte Verpflegung mehr essen. Die Strahlendosis, die der Körper während der gesamten Exkursion ausgesetzt ist, sei jedoch nicht gefährlich. Igor und Elena scheinen das nicht zu glauben. Beide haben sich einen Schutzanzug übergezogen.
Innen-Ansichten aus Prypjat, der Stadt, in der die Tschernobyl-Arbeiter lebten
/ Mascha Stahlberg, n-ost
Am Straßenrand tauchen plötzlich hölzerne, heruntergekommene Bauernhäuser auf. Die Fensterscheiben sind eingeschlagen, die Häuser sind völlig von Pflanzen überwuchert. Wenige Minuten später erreicht der Reisebus Tschernobyl. Die Stadt wurde nach der Katastrophe nur teilweise evakuiert. Heute leben in Tschernobyl noch etwa 2.000 Menschen, vor allem Ingenieure, Arbeiter und Sicherheitsleute.
Bevor es zum Atomkraftwerk geht, verteilt Maxim Strahlenmessgeräte an die Exkursionsteilnehmer. Igor und Elena schalten ihr Messgerät ein, die Anzeigen auf dem Display schwanken zwischen 10 und 11 Mikroröntgen pro Stunde. Das entspricht der normalen, natürlichen Strahlung. Vor dem Atomkraftwerk, das sich zehn Kilometer entfernt von Tschernobyl befindet, beträgt die Strahlung 800 Mikroröntgen pro Stunde. Dieser Strahlendosis kann man sich einen Tag lang aussetzen. Maxim pfeift die Gruppe zusammen, denn nun steht der Höhepunkt der Reise an: Die Fahrt in die Geisterstadt Prypjat.
Prypjat liegt direkt neben dem Atomkraftwerk. Zum Zeitpunkt der Katastrophe, am 26. April 1986, lebten in Prypjat 50.000 Menschen, die meisten davon arbeiteten in Tschernobyl. In Prypjat hat die Reisegruppe zwei Stunden Zeit, um die Stadt zu erkunden. „Ich hätte nicht gedacht, dass sich alles in so einem schlechten Zustand befindet“, sagt Mascha, als sie aus dem Minibus steigt. Alles ist überwuchert, in den Häusern sieht es aus wie nach einem Krieg, fast alle Gebäude wurden geplündert. „Behaltet euer Messgerät im Auge“, warnt Maxim. Die Strahlung hatte sich nach der Reaktorexplosion nicht gleichmäßig verteilt. Der radioaktive Graphitstaub ist an unterschiedlichen Stellen niedergegangen. Daher kann es vorkommen, dass es an einer Stelle nur wenig Strahlung gibt, fünf Meter weiter die Dosis jedoch sehr hoch ist.
Früher gab es in den Schulen Pappschachteln für kyrillische Buchstaben
/ Mascha Stahlberg, n-ost
Maxim führt die Gruppe in ein Hotel, damit die Touristen von der obersten Etage aus Fotos machen können. Danach geht die Reisegruppe in eine Schule. Auf einer Schulbank liegt das Foto eines kleinen Mädchens, an der Wand hängen Pappschachteln mit kyrillischen Buchstaben. „Alles hier erinnert mich an meine Kindheit“, sagt Mascha. „Ich bin in der Sowjetunion aufgewachsen, in der Schule hatten wir die gleichen Pappschachteln mit den Buchstaben.“ Die Schule zu sehen, sei für sie der bewegendste Moment der Fahrt, sagt Mascha. „Das ist wie eine Reise in die Vergangenheit.“
Später sitzt die Gruppe wieder in dem weißen Minibus, es geht zurück von Prypjat nach Tschernobyl. Igor hält noch einmal das Strahlenmessgerät in die Luft. Die Zahlen auf dem Display steigen rasant an: Erst 2.000, dann 3.000, schließlich werden 5.000 Mikroröntgen angezeigt. „Schnell, schnell geben sie Gas“, ruft Igor dem Busfahrer zu. Dann ist die gefährliche Stelle überwunden, die Strahlung sinkt wieder auf normales Niveau.
Am Ende der Sperrzone hält der Bus an einem letzten Kontrollpunkt. Bei jedem wird die Strahlung gemessen, niemand hat jedoch eine erhöhte Dosis abbekommen. Reiseleiter Maxim mahnt trotzdem zur Vorsicht. „Werft eure Bekleidung in den Müll“, rät er den Touristen. Auf der Rückfahrt herrscht Schweigen im Bus. Später sagt Igor, er würde die Reise wiederholen, auch wenn es gefährlich ist. Seine Freundin Elena widerspricht. „Einmal reicht“, sagt sie. Zur Entspannung hat Maxim einen Film eingelegt. Im Fernseher läuft „Der Hase und der Wolf“, eine Zeichentrickserie aus Sowjetzeiten.