Die Spätfolgen von Tschernobyl
Wieder einmal ist Antonina Wassiliewa nach Kiew gekommen. Sie sitzt im Wartezimmer der Blutkrebsabteilung der Kinderklinik Ochmatdet. In den Armen hält sie ihren drei Jahre alten Enkel Sereijko. Der kleine Junge starrt auf den Fernseher in der Ecke, es läuft eine Quizsendung. Er trägt einen Mundschutz, weil sein Immunsystem geschwächt ist. Eine Folge der Chemotherapie. Sereijko leidet an akuter Leukämie, einer tödlichen Blutkrankheit. Antonina Wassiliewa kommt aus Poltava, einer Stadt, die 350 Kilometer von Kiew entfernt liegt. Alle zwei Wochen muss sie mit ihrem Enkel zur Kontrolluntersuchung nach Kiew. „Die Eltern müssen arbeiten, also kümmere ich mich um den Jungen“, erzählt sie.
80 Kinder werden auf der Blutkrebsstation der Ochmatdet-Klinik behandelt. Sie leiden an Leukämie, Lymphknotenkrebs oder an Blutarmut. Neben Schilddrüsenkrebs zählen diese Krankheiten zu den typischen Spätfolgen der Tschernobyl-Katastrophe. Laut einer Studie der deutschen Gesellschaft für Strahlenschutz sind bisher 50.000 bis 100.000 Liquidatoren, die nach dem GAU in Tschernobyl mit Aufräumarbeiten beschäftigt waren, an Folgeerkrankungen gestorben.
Antonia Wassiliewa mit ihrem Enkel Sereijko im Wartezimmer der Kinderklinik Ochmatdet / Mascha Stahlberg, n-ost
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schätzt, dass im belarussischen Gebiet Gomel mehr als 50.000 Kinder im Laufe ihres Lebens Schilddrüsenkrebs bekommen werden. „Die Kinder und Enkel von Menschen, die in den strahlenverseuchten Gebieten gelebt haben, leiden zudem häufig an Leukämie“, sagt Natalja Kubalja, Leiterin der Blutkrebsabteilung der Ochmatdet-Klinik. Leukämie ist eine Form des Blutkrebses, bei der sich zu viele weiße Blutkörperchen im Knochenmark bilden. Kubalja erzählt von einer Mutter, die 1986 geboren wurde – im Jahr der Katastrophe von Tschernobyl. „Die Mutter war völlig gesund, jedoch litt ihr Kind seit der Geburt an Blutkrebs.“
Chefärztin Kubalja kann sich eigentlich glücklich schätzen. Im Vergleich zu gewöhnlichen Krankenhäusern in der Ukraine ist ihre Abteilung gut ausgerüstet. Kubalja verfügt über einen Stab gut ausgebildeter Ärzte, sowie über medizinische Geräte und Medikamente, die zur Blutkrebstherapie notwendig sind. „Das hier ist das einzige Krankenhaus in der Ukraine, in dem mein Enkel behandelt werden kann“, sagt Antonina Wassiliewa.
Kurz nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion sah Ochmatdet ganz anders aus. „Die Abteilung war heruntergekommen und es gab nur eine Toilette für 40 Patienten“, sagt Manfred Bäurle. Der 66-Jährige sitzt im Wartezimmer der Kinderklinik, umgeben von Spielsachen, die größtenteils aus Deutschland kommen. Manfred Bäurle trägt lange graue Haare und einen langen grauen Bart. Er sieht ein bisschen aus wie Gandalf, der Zauberer aus dem Film „Herr der Ringe“. 1991 kam Manfred Bäurle aus dem hessischen Alsbach nach Kiew. Zufällig besuchte er die Ochmatdet-Klinik. „Ich habe gesehen wie die Kinder hier reihenweise an Leukämie starben“, erinnert sich Bäurle. Über den Verein „Christliche Aktion Mensch-Umwelt“ sammelte Bäurle Spenden aus Deutschland. Mit dem Geld wurde die Blutkrebs-Abteilung halbwegs renoviert, Waschbecken und Toiletten wurden installiert, Infusionspumpen und Krankenbetten beschafft.
Manfred Bäuerle sammelt Spenden in Deutschland und die Kinderklinik in Kiew schon 88 Mal besucht / Mascha Stahlberg, n-ost
Das allein reichte jedoch nicht aus. „Das größte Problem war, dass es in der Sowjetunion keine Behandlungsmethode für Leukämie gab“, erzählt Bäuerle. Die Krankheit galt als nicht heilbar, Leukämie-Patienten waren zum Tode verurteilt. Mit den Spendengeldern konnte die Ochmatdet-Klinik eine Methode zur Behandlung der Blutkrankheit einführen, die so genannte „Berlin-Frankfurt-Münster-Methode“. Die Behandlung dauert 24 Monate und besteht aus einer intensiven Chemotherapie. In den ersten acht Monaten der Chemotherapie leben die Kinder im Krankenhaus und sind mit ihren Müttern in „Gästezimmern“ untergebracht. Danach werden sie entlassen, die Behandlung wird zu Hause fortgesetzt. „Mit dieser Therapie können wir 70 Prozent der Kinder heilen“, sagt Chefärztin Kubalja.
„Die Behandlung eines Leukämie-Patienten kostet in der Ukraine knapp 4.000 Euro“, so Manfred Bäurle. Notwendig seien nicht nur Medikamente für die Chemotherapie, sondern auch Medizin, um deren Nebenwirkungen zu bekämpfen. „Eine der häufigsten Nebenwirkungen ist die Pilzkrankheit, die zum Tod des Patienten führen kann“, erläutert Ärztin Kubalja. Bei der Beschaffung der Pharmaka geht Bäurle wie ein geschickter Kaufmann vor. „Methotrexat“, ein Medikament gegen die Pilzkrankheit kostet in Deutschland 30 Euro, in Österreich dagegen nur 1,80 Euro. „Das kaufe ich natürlich in Österreich“, schmunzelt Bäurle. Auch gegenüber deutschen Pharmakonzernen beweist er Verhandlungsgeschick. „Ich konnte eine Firma überreden, einen Blutzellseparator zu spenden“, sagt er. Ein Blutzellseparator kostet um die 50.000 Euro. Für den dreijährigen Sereijko ist das Gerät überlebensnotwendig. „Infolge der Chemotherapie ist die Anzahl der Blutplättchen in seinem Körper zurückgegangen“, erläutert Ärztin Kubalja. Der Zellseparator sammelt Blutplättchen aus fremdem Spenderblut, die dann in das Blut des Patienten eingeführt werden. Mit den Spenden aus Deutschland werden auch Weiterbildungskurse für die Ärzte der Ochmatdet-Klinik finanziert. Kubalja beispielsweise war dieses Jahr in München auf einem Leukämie-Kongress.
Kleiner Patient in der Kinderklinik Ochmatdet / Mascha Stahlberg, n-ost
Die Arbeit für das Krankenhaus zerre manchmal an den Nerven, erzählt Manfred Bäuerle. Ein Problem sei zum Beispiel die Bezahlung der Medikamente. „Einige Medikamente kaufen wir direkt bei einer Großapotheke in Kiew.“ Es ist jedoch nicht möglich, Geld aus Deutschland in die Ukraine zu überweisen. Deshalb bleibt oft nichts anderes übrig, als das Geld in bar über die Grenze zu bringen. „Einmal hat mir der Zoll am Flughafen Kiew über 10.000 Euro abgenommen“, berichtet Bäurle. Das Problem wurde jedoch schnell gelöst, als Bäurle erklärte, wofür die Summe bestimmt war. „Das Kind des ukrainischen Zollbeamten war selbst an Leukämie erkrankt. Ein Anruf im Ministerium genügte und ich wurde durchgelassen.“ Mehr Kooperation wünscht sich Bäurle von den deutschen Behörden. „Es kam schon oft vor, dass Visa für ukrainische Ärzte abgelehnt wurden, die zur Fortbildung nach Deutschland wollten“, berichtet er.
Wenn Manfred Bäurle an die Katastrophe im japanischen Atomkraftwerk Fukushima denkt, sieht er Parallelen zu Tschernobyl. „Die Spätfolgen, die wir heute in der Ukraine beobachten, können in einigen Jahren auch in Japan auftauchen“, sagt Bäurle. „Ähnlich wie bei uns kann es dort zu einem hohen Risiko von Leukämie, Schilddrüsenkrebs und Knochenkrankheiten kommen“, ergänzt Kubalja.
Die Chefärztin sitzt am Schreibtisch in ihrem Arbeitszimmer. Sie ärgert sich über die Gesundheitspolitik, die seit dem Ende der Sowjetunion in der Ukraine betrieben wird. Es gäbe keine Statistiken über Leukämie- und Krebserkrankungen in der Ukraine, erklärt Kubalja. Das mache es schwer herauszufinden, wie hoch das Krebsrisiko nach der Tschernobyl-Katastrophe exakt ist. „Dass es keine Statistik gibt, kann politische Gründe haben oder an der Faulheit der Behörden liegen“, meint sie. Laut einer Studie der Gesellschaft für Strahlenschutz ist das Leukämierisiko in den vom radioaktiven Fallout belasteten Gebieten um das Dreifache gestiegen. Kubalja macht sich keine Illusionen: „Wir werden noch in den nächsten Jahrzehnten mit den Spätfolgen zu kämpfen haben.“