„Abhauen, so weit weg wie möglich.“
Wer etwas erfahren will über die Lage der etwa 700.000 Roma in Ungarn, der muss nur Józsefváros besuchen, den achten Bezirk in der Budapester Innenstadt. Neben schicken Eigentumswohnungen vegetieren Roma in heruntergekommenen Häusern. Nur die Spielhölle gegenüber dem Teleki-Markt ist schon am frühen Morgen voll, hier hauen die Roma ihre wenigen Forint auf den Kopf, angezogen vom Glücksversprechen der einarmigen Banditen.
Der Markt selbst: schmutzig-grau. Hähnchenschenkel werden feilgeboten, etwas Obst, etwas Gemüse. Der Mann, der hier für die Sicherheit zuständig ist, sieht aus wie ein Rapper: dunkle Kapuzenjacke, Base-Cap. Und er ist schon am frühen Morgen schlecht gelaunt. „Die Leute hungern hier“, schimpft er, „und das wird bestimmt nicht besser durch die EU-Ratspräsidentschaft Ungarns.“ Sein Tipp: „Abhauen, so weit weg wie möglich.“ Eine Alleinerziehende mit vier Kindern pflichtet ihm bei: „Ich bekomme einfach keinen Putzjob“, klagt sie, „sobald die Leute sehen, dass meine Haut dunkel ist, winken sie ab.“ So wie ihr geht es vielen. Drei von vier Roma in Ungarn haben keinen Job, die studierte Roma-Elite ist winzig, gerade mal ein bis zwei Prozent der Minderheit haben einen höheren Bildungsabschluss.
Das soll sich ändern, möchte Zoltan Balog, zuständiger Staatsminister der ungarischen Regierung. Während die EU-Kommission unter ungarischer Ratspräsidentschaft in diesen Tagen ihren europaweiten Roma-Aktionsplan vorstellt, will Balog auch das nationale Roma-Programm für Ungarn präsentieren. Er möchte dafür auch EU-Gelder locker machen. Die sollen „gezielt eingesetzt werden“, sagt sein Pressesprecher Kalman Kali Horvath und verweist auf die vielen Hilfsgelder, die in der Vergangenheit in dunklen Kanälen versickert sind. Die zahlreichen nationalen EU-Programme zur Armutsbekämpfung – so die Regierung in Budapest – sollen harmonisiert werden. Es soll eigene Roma-Hilfsprogramme geben. Das klingt nach Zukunft.
Schaufensterpolitik für die EU
Aber wie sieht die Wirklichkeit in Ungarn aus? Zum Jahresende 2010 hat die ungarische Regierung 35 Stiftungen dicht gemacht, die die Minderheit unterstützt haben. Entsprechend sauer sind ungarische Roma-Vertreter. „Premier Viktor Orban macht reine Schaufensterpolitik für die EU“, schimpft etwa Janos Bogdan, Sprecher der Roma-Selbstverwaltung (OCÖ), „mit der einen Hand gibt er, mit der anderen nimmt er.“ So sei das „Antidiskrimierungsnetzwerk von Juristen“ geschlossen worden, nach zehn Jahren erfolgreicher Arbeit. Es hat Roma unterstützt, die sich keine Anwälte leisten konnten. Insgesamt 11.000 Bedürftige nahmen die Arbeit des Netzwerks in Anspruch.
Weiteres Beispiel: Die Gandhi-Stiftung wird aufgelöst. Sie betreibt das Vorzeige-Projekt „Gandhi-Gymnasium“ in Pécs, an dem möglichst viele Roma-Kinder zum Abitur geführt werden sollen. In Interviews hebt Staatsminister Balog es als Vorzeige-Projekt hervor. Sein Sprecher sagt dazu nur: „Es hat im Stiftungskuratorium eine Patt-Situation gegeben, die niemandem genützt hat. Es wurden keine Entscheidungen mehr getroffen.“
Geld an die eigene Stiftung verteilt
Oberster Geldverteiler der Regierung wird künftig Florian Farkas sein, zuständiger Staatssekretär für Minderheitenfragen. In einer Rede vor der Roma-Selbstverwaltung OCÖ hat er freimütig bekannt, dass er Geld künftig nur noch an ihm genehme Organisationen verteilen will. Dazu gehört die Roma-Organisation Lungodrom, deren Präsident der Regierungsbeauftragte ist – er gibt sich also selbst Geld. Der Mitbegründer der ungarischen Grünen (LMP) Gergely Kispal erklärt: „Gelder für den sogenannten Haushaltsrat, der abgeschafft wurde, sind umgeleitet worden, zu einer einzigen Roma-Organisation“ – nämlich Lungodrom.
Das sorgt für erheblichen Ärger unter den Roma selbst. Der Security-Mann vom Teleki-Markt schimpft: „Orbans Pinscher Farkas erpresst uns: ‚Wer Hilfe haben will, muss in meinen Verein eintreten‘.“ Was Farkas auszeichnet: Er ist Mitglied der Regierungspartei Fidesz. Und ähnlich wie in der Kultur, in den Medien, in der Justiz, in der Politik, läuft es offenbar auch bei der Roma-Förderung: Wer Freund ist, dem gibt die Regierung – wer als Feind gilt, der wird geschnitten.
Religion als ungarisches „Wesensmerkmal“
Die großen Kirchen gelten als Freund der Regierung Orban. Der nationalkonservative Premier will die christliche Religion jetzt sogar als ungarisches Wesensmerkmal in die Verfassung schreiben. Das Parlament stimmt Mitte April darüber ab. Und auch in Sachen Roma sollen die Kirchen offenbar eine stärkere Rolle bekommen. Direkt gegenüber dem Teleki-Markt im achten Bezirk von Budapest hat Radio C seinen Sitz, Ungarns einziges Roma-Radio. Geschäftsführer von Radio C ist Tivadar Fatyol.
Der bedächtige Mann, über dessen Schreibtisch eine Superman-Puppe aus Schaumgummi wacht, schüttelt den Kopf. „Wir wissen gar nicht so genau, was die Regierung eigentlich vorhat“, sagt er. Nur soviel sei klar aus den Budgetverhandlungen: Die großen Kirchen sollten mehr Geld bekommen und sich um die Roma kümmern. Der Regierungssprecher bestätigt dies und meint: „Viele Roma sind sehr gläubig. Die Kirchen können deshalb vor Ort am besten helfen.“ Radio-C-Geschäftsführer Tivadar Fatyol schüttelt den Kopf. „Die meisten Roma sind gar nicht in den großen Kirchen organisiert, sondern in Pfingstgemeinden oder ähnlichen Freikirchen“, gibt er zu bedenken.
Bittere Armut
Wer seine Kinder nicht zur Schule schickt, dem soll die Stütze gekürzt oder gestrichen werden. So will die Regierung dafür sorgen, dass mehr Roma-Kinder die Schulbank drücken. Ingesamt sei es schlimmer geworden für die Armen in Ungarn, meint Gabor Csabai vom linksalternativen Radiosender „Tilos Radio“, der selbst Hilfsaktionen für die Obdachlosen in der Stadt organisiert. „Die Menschen werden zunehmend links liegen gelassen“, sagt er. Dabei gehe es nicht um ethnische Zugehörigkeit, „es geht um bittere Armut“. Die leider auch dazu führt, dass die Armen aus Verzweiflung klauen – oft sind es Roma, denn sie gehören zu den Ärmsten.
Den Kampf gegen die sogenannte „Zigeunerkriminalität“ haben sich die Rechtsextremen von „Jobbik“ auf die Fahne geschrieben. Sie sitzen seit dem vergangenen Jahr in Fraktionsstärke im Parlament. Und im nordungarischen Gyöngyöspata lässt sie die Regierung gewähren. Dort hat es nach Angaben von Roma-Vertretern im vergangenen Jahr um die 60 Diebstähle gegeben. Seit einigen Wochen patrouilliert dort eine rechtsextreme Bürgerwehr. „Die Regierung muss sich vor der ganzen Welt schämen, dass nicht der Staat die Ordnung aufrecht erhält“, schimpft Gabor Csabai. „Roma-Strategie“ – das sei nur ein wohlklingendes Motto mit Blick auf Brüssel. Die nationalkonservative Regierung in Budapest habe aber außer Phrasen nichts zu bieten. „Sie haben kein Konzept“, meint der alternative Radiomacher, „es geht nur darum, ihre Macht zu sichern.“