Getrennte Erinnerung
Larissa Jakowjuk drückt einen Kippschalter am Rand der Spanholzplatte. Eine Kette roter Lämpchen leuchtet auf. Plutonium 239, soll das heißen. Ein kurzer Druck auf einen anderen Knopf erzeugt gelbes Blinken: Strontium 90. „Das sind Strahlennester“, sagt Larissa. Sie würde die Lämpchen am liebsten schnell wieder ausschalten. Denn sie kennzeichnen jene Orte in der 30-Kilometer-Sperrzone rund um Tschernobyl, an denen sich nach der Reaktorexplosion im April 1986 die radioaktiven Stoffe in so hoher Dosis angesammelt haben, dass sie bis heute alles Leben abtöten.
Das Tschernobyl-Modell im Kinderzentrum „Nadeschda“: Das Kernkraftwerk ist auf einem Stab befestigt, so dass es als ewige Mahnung über der Platte zu schweben scheint / Maximilian Rosenberger, n-ost
Eigentlich kommt Larissa Jakowjuk gern in ihr kleines Museum mit all den Exponaten, die an die internationale Tschernobyl-Hilfe erinnern. Wäre da nicht der Tisch mit der Todeszone und dem nachgebildeten Atomkraftwerk. Die Modellbauer haben es auf einem Stab befestigt, so dass es als ewige Mahnung über der Platte zu schweben scheint. Quer zu den Warnlämpchen verläuft in wildem Zick-Zack ein kaum sichtbarer rot-weißer Faden. Er markiert den Grenzverlauf zwischen Belarus und der Ukraine. Doch was bedeuten Grenzen? Obwohl der Unglücksreaktor im ukrainischen Tschernobyl steht, gingen nach der Katastrophe 70 Prozent des radioaktiven Niederschlags auf dem Gebiet des heutigen Belarus nieder.
An der offenen Tür des Museums rennen einige Jungen vorüber und durchbrechen die Stille. Das Kinderzentrum „Nadeschda“ – Hoffnung –, zu dem der Ausstellungsraum gehört, ist ein Ort des Lebens. Das Sanatorium am Vilejka-See, 80 Kilometer nördlich der belarussischen Hauptstadt Minsk, entstand Anfang der 90er Jahre als deutsch-belarussisches Gemeinschaftsprojekt. „Die Jüngsten brauchen unsere Hilfe am meisten“, sagt Larissa, zu deren Aufgaben es gehört, Besucher über das Gelände zu führen. Das befreite Lachen der kleinen Heimbewohner, die schubsend und drängelnd um die Schaukeln und Rutschen kämpfen, gibt ihr recht.
Fast 40.000 Kinder haben in „Nadeschda“ in den vergangenen 17 Jahren Kraft schöpfen können. Sie kommen jeweils für einige Wochen in die saubere Wald- und Seenlandschaft von Vilejka. Ihre Heimat sind die verstrahlten Gebiete im Südosten von Belarus, direkt an der Grenze zur Ukraine. Der Zerfall der UdSSR hat die beiden einst eng verbundenen Regionen getrennt. Das weiß auch Larissa Jakowjuk. „Anfangs kamen noch einige ukrainische Kinder zu uns“, erzählt die Mittvierzigerin mit den roten Haaren und dem schüchternen Lächeln. Dann jedoch habe die Regierung in Kiew entschieden, eigene Erholungsorte am Schwarzen Meer einzurichten.
Larissa Jakowjuk leitet das Kinderzentrum „Nadeschda“, wo sich Kinder aus den verstrahlten Grenzgebieten erholen können / Maximilian Rosenberger, n-ost
Der autoritäre belarussische Staatschef Alexander Lukaschenko seinerseits legte ebenfalls wenig Wert auf grenzüberschreitende Hilfe für Tschernobyl-Opfer. Ihm war das Nachbarland Ukraine spätestens seit der Orangenen Revolution im Jahr 2004 suspekt. Damals gingen tausende Menschen für mehr Demokratie auf die Straße. Lukaschenko verfolgt seine eigenen Ziele bei der Aufarbeitung der Tschernobyl-Katastrophe. „Wiedergeburt der Heimaterde“, lautet sein Konzept. Es zielt auf den Nachweis ab, dass die Folgen der Reaktorkatastrophe 25 Jahre danach weitgehend überwunden sind. So kann er auch besser begründen, warum er bis 2016 mit russischer Hilfe ein erstes eigenes belarussisches AKW bauen lassen will. Die Verträge haben Minsk und Moskau soeben unterzeichnet.
Auf den eigenen Staat können die Helfer im belarussischen Kinderheim „Nadeschda“ deshalb kaum zählen. „Aber sehen Sie hier“, sagt Larissa und zeigt in ihrem Museum auf ein Wandregal mit feinem Porzellan und Kinderpuppen in Kimonos. „Unsere Kontakte nach Japan sind sehr eng.“ In dem fernen asiatischen Land, über dem US-Kampfflugzeuge 1945 zwei Atombomben abwarfen, hätten die Menschen nach 1986 einen Tschernobyl-Fonds eingerichtet, um „Nadeschda“ zu helfen. Auch bei dem Modellbau im Museum haben sie mitgemacht, wie die japanische Beschriftung verrät.
In diesen Wochen rückt Japan wieder näher an Belarus heran. „Unsere Gedanken sind bei unseren Freunden am anderen Ende der Welt. Die angeblich so billige Atomenergie ist alles andere als eine Garantie für eine gute Zukunft“, schimpft sie. „Wir konnten von hier aus nichts für unsere japanischen Freunde tun“, sagt sie und fügt hinzu: „Deshalb haben wir gebetet.“ Und so vermittelt der kleine Ausstellungsraum im Kinderzentrum „Nadeschda“ eine doppelte Botschaft: Radioaktivität kennt keine Grenzen – menschliche Hilfe ebenso wenig. Ausstellungsstücke aus der nahen Ukraine finden sich hier allerdings nicht.
Vor dem sehr viel größeren staatlichen Tschernobyl-Museum in Kiew säumen stillgelegte Panzerwagen und Armeetransporter aus den 80er Jahren die Zufahrt. Die Erinnerung an die Katastrophe ist dort vor allem eine Erinnerung an einen groß angelegten Militäreinsatz. Anders als ihre belarussische Kollegin Larissa Jakowjuk spricht Anna Korolewskaja nicht gern selbst mit ausländischen Besuchern. Die Museumsleiterin lässt Führungen organisieren, für die sie viel Geld verlangt. Wie so manches in der ukrainischen Hauptstadt, so ist auch das Gedenken an den GAU vor 25 Jahren eine Frage der Finanzen.
Gar nicht einmal so teuer dagegen sind Fahrten im Touristenbus an den Ursprungsort der Katastrophe. Zu viele Anbieter stehen Schlange, das drückt den Preis. Schon für 100 Euro lässt sich in Kiew eine Tagesreise durch die Todeszone buchen. Theoretisch führen die Fahrten an jenen lebensgefährlichen Punkten vorbei, die auf dem Modell im Museum von „Nadeschda“ rot und gelb markiert sind.
Kinder spielen im Kinderzentrum „Nadeschda“. Ihre Heimat sind die verstrahlten Gebiete im Südosten von Belarus, direkt an der Grenze zur Ukraine. Das Zentrum liegt in der sauberen Wald- und Seenlandschaft von Vilejka, etwa 80 km von Minsk entfernt / Maximilian Rosenberger, n-ost
Wladimir Gudow kann über so viel Leichtsinn trotzdem nur den Kopf schütteln. Der 54-Jährige kennt Tschernobyl allzu gut aus eigener Anschauung. 1986 war er direkt am Unglücksreaktor im Einsatz, als stellvertretender Kommandeur des Spezialbataillons 731 gehörte Gudow zu den sogenannten Liquidatoren. Ihre Aufgabe war es, unter Einsatz der eigenen Gesundheit die Folgeschäden der Reaktorexplosion zu minimieren. Mit knappen Bleischürzen und provisorischen Atemschutzmasken ausgerüstet, schaufelten Gudow und seine Männer verstrahlten Schutt beiseite und bereiteten das Fundament für den Sarkophag vor.
„Wir waren keine Helden“, sagt Gudow. „Wir haben unsere Pflicht getan, um künftigen Generationen eine Zukunft zu bewahren.“ Rund drei Viertel der Soldaten des Spezialbataillons 731 sind vor Vollendung des 50. Lebensjahres gestorben. Gudow spricht von einem „Krieg in Friedenszeiten“, den sein Bataillon 1986 geführt habe. Auf Kontakte nach Belarus angesprochen, schüttelt er nur den Kopf.
„Ich habe ein Buch über unseren Einsatz in Tschernobyl geschrieben“, sagt der hagere Mann, der sich lieber in einer Hotellobby zum Gespräch verabredet als in seiner Wohnung. Scham schwingt mit, wenn er erzählt, dass „wir Liquidatoren nur einen Bruchteil der staatlichen Unterstützung bekommen, die das Gesetz vorsieht“. Er möchte darauf nicht angewiesen sein – und ist es doch.
Schließlich zieht Gudow einen schmalen Band aus seiner Aktentasche und richtet sich stolz im Ledersessel auf. „Lebt! Und erinnert euch, damit so etwas nie wieder passiert“, schreibt der Verfasser als Widmung hinein. Dann fällt ihm das Unglück in Japan ein. Er kommentiert es mit einem schlichten Satz: „Das ist sehr traurig.“ Nach kurzem Nachdenken fügt er kopfschüttelnd hinzu: „Dass eine solche Katastrophe auf unserem Planeten nochmals möglich ist, ist nicht zu begreifen."