Slowakei

Erinnerungen an Tschernobyl

Von der Katastrophe in Tschernobyl erfuhr ich erst spät, obwohl die Stadt, wo ich damals lebte, nur 50 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt ist. In der Slowakei galt unmittelbar nach dem Unglück ein Informationsembargo – die Bevölkerung wurde über den GAU und seine direkte Wirkung nicht informiert. So hat meine Schulklasse ein paar Tage nach der Katastrophe, im Mai 1986, kurz vor meinem 13. Geburtstag, einen Schulausflug zur Partnerschule ins ukrainische Uzgorod unternommen. Weder die Schulleitung noch unsere Russischlehrerin ahnten damals, wie gefährlich der Ausflug ist. Obwohl die Tschechoslowakei damals enger „Bruder“ der Sowjetunion war, wurden bei der Bevölkerung absolut keine Schutzmaßnahmen gegen die Strahlung getroffen.


Wir aßen weiter Fleisch und tranken Milch

Die Tschernobyl-Wolke zog nach heutigen Informationen von Greenpeace insgesamt drei Mal über die Slowakei: am 30. April, am 3. Mai und am 7. Mai 1986. Die erste und dritte Wolke traf das ganze Gebiet der Tschechoslowakei, die zweite nur die Westslowakei. Die Ostslowakei, wo ich lebe, war also von zwei Radiationswellen betroffen. Die offiziellen Stellen vertuschten die Katastrophe. Nicht einmal Jodtabletten hat man uns verschrieben. Wir aßen weiter munter das Fleisch und tranken die Milch der Tiere, die mit dem radioaktivverseuchten Heu vom Frühling und Sommer 1986 gefüttert worden waren. Wir wussten nicht, dass die Strahlung auch auf diesem Weg in den Organismus gelangen kann. Forscher bezeichnen dies als die vierte Welle der radioaktiven Belastung in der Slowakei. Diese letzte Welle hätte man durch wirksame Maßnahmen ganz leicht vermeiden können.

Ein Jahr nach dem Atomunfall erkrankte mein Vater an Darmkrebs. Vor 1986 war der Tumor anscheinend gutartig, eine Umwandlung in den bösartigen Krebs könnte laut der Meinung der Ärzte auch die Strahlung verursacht haben. Mein Vater überlebte vielleicht auch deshalb, weil ihm die Ärzte nach zwei Operationen die wahre Diagnose verschwiegen. Viel später traf ich in Wien einen ukrainischen Forscher und Arzt, der mit verriet, dass die Ukraine nach dem Atomunfall bei Tumoren im HNO-Bereich einen Anstieg von 50 Prozent registriert hatte. Einen kontinuierlichen Anstieg der Krebserkrankungen verzeichnet die Ostslowakei bis heute, 25 Jahre nach Tschernobyl.


Hat die Welt überhaupt etwas gelernt?

Trotz der alarmierenden Zahlen sind Umweltthemen in der Slowakei nicht stark im Kommen. Ich denke, es liegt daran, dass eine bürgerliche Gesellschaft fehlt und auch die Bereitschaft der Menschen auf die Straße zu gehen und für sich zu kämpfen. Es ärgert mich, weil es manchen Entscheidungsträgern in die Karten spielt und die Gesundheitsgefährdung durch eine solche Einstellung nicht minimalisiert wird. Die Region ist zudem auch stark durch organische Giftstoffe belastet. Nicht ohne Grund nennt man das Gebiet um die ostslowakischen Städte Humenne, Vranou nad Topou und Strazske herum „das Dreieck des Todes“.

Wenn ich heute die Bilder vom Reaktorunglück in Fukushima sehe, dann frage ich mich: Hat die Welt überhaupt etwas aus Tschernobyl gelernt? Durfte man in einem Land, das so oft von Erdbeben betroffen ist, überhaupt ein Atomkraftwerk bauen? Dabei denke ich an viele meiner Bekannten, die an Krebs gestorben sind. Oder an eine Freundin von mir, die an einer Schilddrüsen-Störung leidet, und wegen der hormonellen Auswirkungen vielleicht nie ein Kind bekommen wird. Diese Krankheit kommt seit Tschernobyl immer häufiger vor. Außerdem frage ich mich, ob ich von der tiefen Trauer, die ich als Teenager während der Erkrankung meines Vaters spürte, heute geheilt bin.


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