Wenn die Angst Ungeheuer gebiert
Schokoladeneis war in Belarus zu Sowjetzeiten Mangelware. Eine ganz köstliche Mangelware. Es wurde nur an besonderen Feiertagen verkauft, zum Beispiel am 1. Mai. Zur Parade 1986 gingen damals alle. Tatsächlich gab es schon Gerüchte, dass sich irgendein furchtbares Unglück ereignet hätte. Aber keiner machte sich allzu große Gedanken deswegen – dieser 1. Mai war dafür ein viel zu sonniger und warmer Tag.
Ich bewegte mich mit meinen Eltern durch die Menge, mit riesigen weißen Schleifen in beiden Zöpfchen, ganz stolz und wichtig. Im September sollte ich schließlich in die Schule kommen. Diese Mai-Demonstration war jung, glücklich und hatte so gar nichts Verdächtiges an sich. Damals habe ich noch nicht gewusst, dass auch das Schweigen ein Verbrechen am eigenen Volk sein kann.
Ist Strahlung ansteckend?
Dann tauchten auf einmal die so genannten „Tschernobyler“ auf. So nannten wir die Übersiedler aus dem Verwaltungsbezirk von Tschernobyl. Das waren nicht wenige. Es hieß, dass man ihnen nicht mal erlaubt habe, Gepäck mitzunehmen. Es hieß außerdem, dass sie in der Dunkelheit leuchteten und dass man sich an ihnen mit „Strahlung“ anstecken könne. Niemand hat so richtig verstanden, was das sein sollte, aber es hörte sich furchtbar an. Wir hielten uns fern von ihnen, mit den Tschernobyler Kindern sollten wir uns nicht anfreunden. Viele der Familien konnten das nicht aushalten und kehrten in die Zone um Tschernobyl zurück.
Tschernobyl – das heißt, dass dein Zuhause, das vorher deine Festung und dein Rückzugsort war, auf einmal zu deinem Feind wird.
Dann, zehn Jahre später, gab es in Belarus plötzlich eine Reihe seltsamer Allergien und Krankheiten. Ich erinnere mich, dass ich wegen einer starken Kälte-Allergie ins Krankenhaus musste. Die Ärzte hatten keine Erklärung, und unter dem Siegel der Verschwiegenheit sagten sie: „Wahrscheinlich hängt es irgendwie mit Tschernobyl zusammen.“ Auch als ich wegen einer Autoimmunerkrankung in der Wirbelsäule behandelt werden musste, hörte ich das gleiche, angsteinflößende Flüstern: „Wahrscheinlich hängt es irgendwie mit Tschernobyl zusammen.“
In jeder Familie gibt es Krebs
Die Belarussen sind vom Krebs heimgesucht. Es ist eine schreckliche Krankheit, die viele vor 25 Jahren nur vom Hörensagen kannten – heute betrifft sie jede Familie. Es gibt keinen einzigen Belarussen, der nicht einen Freund oder Verwandten wegen Krebs verloren hat. Wenn die Diagnose „Krebs“ einmal gestellt ist, ist das in der Regel eine Vorhersage: Der Mensch stirbt dann meistens ziemlich schnell, nach ein paar Monaten. Es gibt kaum einen, der länger am Leben bleibt.
Tschernobyl – das heißt, dass Ärzte ihre eigene Hilflosigkeit mit dem Wort „wahrscheinlich“ entschuldigen.
Die Zone um Tschernobyl wurde zur „guten Mutter“ für alle kleinen Leute, die von den großen Systemen enttäuscht sind. Hierhin flüchtet man sich vor dem Staat, vor dem Krieg, vor dem Gefängnis oder vor Kränkung. Hierher kommen die Menschen aus anderen belarussischen Regionen und aus anderen Ländern. Keiner weiß, wie viele Leute derzeit in dieser Zone leben. Tschernobyl führt ein eigenes, mit dem Auge kaum wahrnehmbares, aber intensives Leben.
Tschernobyl – das heißt, dass der Staat angsteinflößender wird als der Tod.
Nur Blütenstaub oder Radioaktivität?
2008 kamen in Belarus auf einmal Gerüchte auf, es habe eine neuen, gewaltigen Niederschlag radioaktiver Strahlung gegeben. Irgendjemand behauptete, ein russisches AKW sei in die Luft gegangen, ein anderer sagte, ein litauisches. Alle Gerüchte drehten sich vor allem um das eine: Dem Volk wird die Wahrheit vorenthalten. Zu mir kam eine äußerst seriöse Delegation von Rentnern, um mich „vor einer Gefahr zu warnen“: „Sehen Sie das Gelbe?“, sie zeigten aus dem Fenster. „Das ist die Strahlung. Sie ist überall.“ Die Wiese draußen war über und über mit gelbem Blütenstaub bedeckt.
Tschernobyl – das heißt, dass die Angst Ungeheuer gebiert, die die Umgebung zu etwas Bösem und Fremdartigem werden lassen.
Während die Welt noch um die Opfer der Katastrophe in Japan weint, „staubte“ Alexander Lukaschenko am 17. März 2011, sechs Tage nach dem Unglück in Fukuschima, bei Putin Geld ab und unterschrieb eine Vereinbarung zur Errichtung eines neuen Atomkraftwerkes in Belarus. Und zwar in einem Gebiet, das besonders stark erdbebengefährdet ist. 1908 gab es in Ostrowez, im Nordwesten von Belarus, ein Erdbeben der Stärke 7 auf der Richterskala.
Tschernobyl – das heißt, dass die Regierung auf eine zynische Art und Weise Leben und Gesundheit ihrer Bürger aufs Spiel setzt für ihre eigenen, ungesunden Ziele.
Aus dem Russischen von Tamina Kutscher