Tschechien

Atomkraft, ja bitte?!

Der Morgennebel steht zwischen den vier mächtigen Kühltürmen, als im Atomkraftwerk Temelin die Frühschicht beginnt. Roman Gabriel ist heute Schichtleiter in der Blockwarte des Reaktors I. Mit seinen drei Kollegen kontrolliert der Kernphysiker über Dutzende Bildschirme und Signaltafeln den gesamten Prozess von der Kernspaltung bis zur Einspeisung der Elektroenergie ins Netz. Alles läuft normal. Im Hintergrund dudelt ein Radio. Auf der Speisekarte für das Mittagessen stehen heute Schweineleber und Rinderbraten. Es ist Tag drei nach dem Ausfall der Kühlsysteme im japanischen Atomkraftwerk Fukushima. Außer einigen Tests steht an so einem Tag in Temelin nichts anderes an, als die Bildschirme für einen eventuellen Störfall im Blick zu behalten.

Kritik kommt vor allen aus Nachbarstaaten

Die vielen Journalisten, die sich unaufhörlich auf dem Handy von Kraftwerkssprecher Marek Svitak melden, sind der einzige Hinweis, dass sich tausende Kilometer weit weg gerade eine atomare Katastrophe ereignet. Der Andrang ist leicht zu erklären: Temelin ist außerhalb Russlands das bislang letzte Kernkraftwerk, das in Europa in Betrieb gegangen ist. Es liegt nur rund 60 Kilometer von der deutschen und rund 80 Kilometer von der österreichischen Grenze entfernt. Das Kraftwerk gilt vor allem in den Nachbarstaaten Österreich und Deutschland als extrem unsicher. Eine Einschätzung, die Zdenek Kriz nicht nachvollziehen kann. Der Kernphysiker ist so etwas wie eine Leitfigur der tschechischen Atomenergieentwicklung. In den 1980er Jahren war er Mitglied der tschechoslowakischen Atomkommission, einer Art Aufsichtsorgan. Nach der friedlichen Revolution wechselte er zur Internationalen Atomenergieagentur nach Wien. Heute arbeitet er im Kernforschungsinstitut in der Nähe von Prag.

„Die Katastrophe von Tschernobyl hat uns sehr geholfen, die Sicherheitsbestimmungen, die schon seit 1984 galten, auch durchzusetzen“, meint er. Zuvor war Kritik vor allem an Anlagen aus dem Bruderstaat Sowjetunion nicht gern gesehen. „Speziell mit dem Steuersystem nach sowjetischem Modell waren wir unzufrieden, weshalb wir begannen, unser eigenes weiterzuentwickeln“, nennt Kriz ein Beispiel. Doch ehe der eigene Prototyp fertig war, kam die Wende und damit die Möglichkeit, die Steuertechnik auf dem freien Markt zu erwerben. So kam es, dass Temelin zum Hybrid aus sowjetischer und amerikanischer Technik wurde. Laut Kriz ein Glücksfall auf dem Weg zu einem sichereren Kraftwerk.

Symbiose aus Sowjet-Reaktor und westlicher Technik

Für Kritiker dagegen, wie den Kernphysiker Dalibor Strasky, ist genau diese Mischung die Quelle möglicher Havarien. Der 50-Jährige hat selbst vor der Wende im zweiten tschechischen Atomkraftwerk Dukovany als Operator gearbeitet. Auch in Temelin war er beim Bau dabei. Nach 1989 aber schloss er sich der Anti-Atom-Bewegung an. „Ich wollte dass nicht mehr mitmachen, da ist zu viel schief gelaufen“, sagt er. Doch die aktiven Zeiten sind längst vorbei. Strasky hat sich in eine südböhmische Kleinstadt zurückgezogen und steht den ehemaligen Aktivisten vor allem als Gutachter bei. „In den 1990er Jahren konnten wir viele Leute mobilisieren, da die Chance groß war, Temelin überhaupt noch zu verhindern“, erzählt er. In der Tat beschloss gleich die erste frei gewählte tschechoslowakische Regierung, nur zwei der vier geplanten Reaktoren zu bauen. „Damals kam es zu einer Umbewertung des Energiebedarfs. Die Regierung beschloss, dass zwei Kraftwerksblöcke reichen“, erinnert sich Kriz, der aber einräumt, dass der Protest, vor allem aus dem Ausland, seinen Anteil gehabt hat. Vor allem Atomgegner aus Deutschland und Österreich hielten die Inbetriebnahme von Temelin für unverantwortlich. Die Symbiose aus sowjetischem Reaktor und westlicher Steuertechnik sei noch nie erprobt worden und berge zu viele Risiken.

Sprecher Brom hat alle Vorwürfe verinnerlicht

In Temelin scheint inzwischen die Frühlingssonne auf das Kraftwerk. Am Abend wird das Radio bekannt geben, dass im nahen Budweis ein neuer tschechischer Wärmerekord für diesen Tag gemessen wurde. Wegen des großen Medieninteresses führt diesmal der zweite Sprecher Vaclav Brom durch die weitläufige Anlage. Er stellt sich mit seinem Rufnamen Vasek vor und ist auch sonst Kumpel. „Wenn sich zum Beispiel ein Ventil der Pumpe nicht richtig schließt, entscheiden die Jungs, was zu tun ist“, erklärt Brom eine mögliche Unregelmäßigkeit. Mit „den Jungs“ meint Brom Blockwart Gabriel und die drei Techniker.

Der Sprecher arbeitet schon seit 1996 für den guten Ruf des umstrittenen Atomkraftwerks nahe der deutschen und österreichischen Grenze. Er hat die Vorwürfe gegen Temelin verinnerlicht. „Ja, wir hatten anfangs Probleme, mussten das Kraftwerk immer wieder herunterfahren. Aber das hatte alles seine Ursache im sekundären Bereich“, betont er. Damit ist der Teil gemeint, der laut Brom „wie ein herkömmliches Kraftwerk funktioniert“. Das heißt, der Reaktor – übrigens im Unterschied zur Tschernobyl und Fukushima ein Druckwasserreaktor, wie er auch in den neueren deutschen Anlagen steht – war davon nicht betroffen.

„Vielleicht sorgt ja Fukushima dafür, dass sie aufwachen“

1999 bot sich die letzte Möglichkeit, die Inbetriebnahme von Temelin doch noch abzuwenden. „Die damalige Regierung musste die Betriebsgenehmigung geben. Die Entscheidung fiel knapp mit 11:8 Stimmen für Temelin“, trauert Atomgegner Dalibor Strasky der verpassten Chance hinterher. Seitdem scheint der Protest aus der tschechischen Öffentlichkeit verschwunden. Regelmäßig geben zwei Drittel in Umfragen an, dass Tschechien an der Atomkraft festhalten sollte. „Die Leute haben Tschernobyl längst vergessen. Vielleicht sorgt ja Fukushima dafür, dass sie aufwachen“, hofft er.

Für diese Hoffnung hat Sprecher Brom kein Verständnis. Für ihn ist das alles nur Hysterie. „Nein, wir dürfen jetzt keine übereilten Schlüsse ziehen, sondern müssen einen kühlen Kopf bewahren und analysieren“, sagt Brom mit Blick auf Fukushima. Für einen Verzicht auf die Atomenergie gebe es keinen Grund, erst recht nicht in Temelin. „Wir stehen hier auf der stabilsten Erdplatte und trotzdem ist das Kraftwerk für Erdbeben bis zu einem Wert von 5,5 ausgelegt.“ Und das Kühlwasser? Das muss erst fünf Kilometer aus dem nächsten Moldau-Stausee überwinden, ehe es im Kraftwerk ist. Vaclav Brom winkt ab und zeigt auf zwei riesige Wasserbehälter auf dem Kraftwerksgelände. „Damit können wir einen Ausfall der Wasserleitung auf lange Sicht ersetzen.“ Nein, Temelin wurde schon so oft international geprüft, dass es inzwischen keine Sicherheitslücken mehr geben könne. Auch gegen Terror-Attacken oder Flugzeugabstürze sei das Kraftwerk durch einen Mantel aus Stahlbeton geschützt.

Schlechte Zeit für Atomenergie

Auch Zdenek Kriz glaubt nicht, dass Fukushima eine Abkehr von der Atomenergie auslösen wird. „Das ist jetzt eine gute Zeit für Populisten und eine schlechte für die Atomenergie. Aber die Vernunft wird sich durchsetzen“, meint er. Die „Vernunft“ bedeutet für die meisten Tschechen einen weiteren Ausbau der Kernenergienutzung. Heute kommt rund ein Drittel der Energie aus AKWs, in Zukunft soll ihr Anteil weiter steigen, um die Kohlekraftwerke im Norden der Republik abschalten zu können. Die verschmutzen die Umwelt, der Kohlebergbau hinterlässt Mondlandschaften. Die Atomenergie dagegen sei sauber, preisgünstig und sichere zudem die Unabhängigkeit vom Ausland, so die gängigen Argumente.

In seltener Einigkeit haben Regierung und Opposition zunächst den halbstaatlichen Stromkonzern CEZ stark gemacht, bevor dann die alten Pläne für Temelin wieder aus der Schublade geholt wurden. Das Kraftwerk selbst ist auf den Ausbau vorbereitet. Die zwei Plateaus für die Blöcke stehen noch aus den 1980er Jahren. Dahinter ist Platz für noch einmal vier Kühltürme und auch das Zwischenlager mit Castorbehältern lässt sich genau so noch einmal aufbauen.

Auch Verlängerung der Laufzeiten ist geplant

Derzeit läuft das Auswahlverfahren, neben Amerikanern und Franzosen sind auch die Russen dabei, die sich bereits den tschechischen Kraftwerksbauer Skoda Plzen einverleibt haben. Das ist in Tschechien besonders bedeutend, denn das Land will bei der Energietechnik auch in Zukunft wettbewerbsfähig bleiben. Dafür sind Aufträge wichtig. „Außer dem Druckbehälter, dem Steuersystem und dem Brennmaterial können wir alles selbst machen“, sagt Kernphysiker Kriz selbstbewusst.

Und nicht nur Temelin soll ausgebaut werden. Es ist auch eine Verlängerung der Laufzeiten von 40 auf 60 Jahre geplant. Der erste tschechische Block würde dann frühestens 2036 vom Netz gehen. Gehen die Pläne mit Temelin auf, läuft hier der letzte Meiler mindestens bis 2080. Tschechien exportiert bereits heute die komplette Leistung eines AKW.
Sollte Deutschland aus der Atomenergie aussteigen, stünden die Chancen für tschechische Energie nur noch besser, so das Szenario, das bereits offen diskutiert wird. Kritische Stimmen, die in Tschechien vor den Risiken der Atomkraft warnen, sollen mit dem Populismus-Vorwurf möglichst unhörbar gemacht werden. Zu viel steht auf dem Spiel.


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