Künstler auf der Flucht
Er hat den Holocaust in Budapest überlebt. Er hat den ungarischen Stalinismus überlebt und vier Jahrzehnte so genannten Gulaschkommunismus ertragen. Doch im postkommunistischen Ungarn hielt Akos Kertesz es zuletzt nicht mehr aus.
Anfang März beantragte der 79-jährige ungarisch-jüdische Schriftsteller in Kanada Asyl. In einer kurzen Stellungnahme sagte er: „Ich hoffe, dass ich eines Tages in ein demokratisches, tolerantes und menschliches Ungarn zurückkehren kann.“ Seitdem schweigt Kertesz.
Wütende Polemik gegen Landsleute
Der Schriftsteller hatte in den letzten Jahren zunehmend unter den nationalistischen, antisemitischen Tendenzen in Ungarn gelitten. Im August 2011 hatte er seinen Landsleuten in einer wütenden Polemik kollektiv vorgeworfen, bis heute ihre Mitschuld am Holocaust zu leugnen. In dem – auch unter befreundeten Kollegen umstrittenen – Artikel hatte er unter anderem geschrieben: „Der Ungar ist genetisch untertan. Glücklich suhlt er sich im Schlamm der Diktatur. Er mag nicht lernen, nicht arbeiten, er kann nur neiden.“
Nach einem empörten, geradezu hysterischen Aufschrei ungarischer Konservativer und Rechtsextremer zog Kertesz zwar den am meisten inkriminierten Satz, der Ungar sei „genetisch untertan“, zurück. Dennoch wurde ihm die Ehrenbürgerschaft Budapests entzogen. Die rechtsextreme Partei Jobbik, immerhin zweitstärkste politische Kraft im Land, verlangte eine Anklage wegen Landesverrats.
Kulturpolitischer Skandal
Ein knappes halbes Jahr hielt Kertesz es noch aus. Nach eigenen Angaben war er verbal und physisch immer wieder massiv bedroht worden. Nach seiner Ausreise riefen ihm Kommentatoren in der regierungstreuen Presse hämische Bemerkungen nach. Kertesz´ in Berlin lebender Schriftstellerkollege György Dalos ist entsetzt: „Wenn in der Regierung nüchtern denkende Menschen wären, dann würden sie ihm schreiben und ihn zurück nach Ungarn rufen.“
Der Fall Kertesz ist einer der größten kulturpolitischen Skandale, seitdem in Ungarn Ende April 2010 Viktor Orban und seine Partei, der nationalkonservative „Bund Junger Demokraten“ (Fidesz), die Wahlen mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit gewannen. Aber nicht der einzige. Orban hat Ungarn machtpolitisch und ideologisch radikal umkrempeln lassen. Im Kulturbereich richtet sich der Umbau vor allem gegen die urbane, plurale Budapester Intellektuellen- und Kulturszene, aber auch gegen unabhängige Kultureinrichtungen außerhalb der Hauptstadt.
Immer wieder werden mit stillschweigender Billigung der Regierung Kampagnen gegen kritische Intellektuelle geschürt. Eine davon ging unter dem Namen „Philosophenprozess“ in die zeitgenössische Geschichte Ungarns ein: Anfang 2011 initiierte ein so genannter „Abrechnungsbeauftragter“ der Regierung Ermittlungen gegen führende ungarische Philosophen. Angeblich sollten sie staatliche Forschungsgelder veruntreut haben.
„Auszeit” von Ungarn
Die Vorwürfe sind längst in sich zusammengebrochen. Doch manche der Betroffenen hat es die Existenz gekostet, zum Beispiel den brillanten Religionshistoriker György Gabor. Er war letztes Jahr monatelang arbeitsunfähig, dann, im Dezember, kündigte ihm das Philosophische Forschungsinstitut der Ungarischen Akademie der Wissenschaften – sechs Wochen vor Erreichen des altersbedingten Kündigungsschutzes. Der 58-jährige Gabor ist zutiefst verbittert – hätte er einen Lehrauftrag im Ausland, sagt er, würde er Ungarn sofort verlassen.
So geht es auch vielen anderen Intellektuellen und Künstlern. Letztes Jahr nahm der Roma-Aktivist Aladar Horvath eine mehrmonatige „Auszeit” von Ungarn. Seine Kollegin Viktoria Mohacsi, eine ehemalige Abgeordnete des Europaparlamentes, verließ das Land im Dezember 2011 – definitiv.
„Ich gehe inzwischen wöchentlich zu Abschiedspartys von Freunden und Bekannten“, sagt die Budapester Kunstkritikerin Anna Balint, die sich in einer Art inneren Emigration fühlt. „Manche verlassen Ungarn, weil sie materiell keine Chance mehr haben, andere wegen der allgemeinen Aussichtslosigkeit.“
Ungarns oberster staatlicher Kulturpapst, Geza Szöcs, reagiert entnervt, wenn er solche Vorwürfe hört. Er amtiert im Ministerium für Nationale Ressourcen als Staatssekretär für Kulturangelegenheiten. „Die Intellektuellen und Künstler, die heute die Orban-Regierung mit Vorwürfen überhäufen, wollen einfach nicht akzeptieren, dass sie keine Regierung mehr haben, deren Hofintellektuelle und -dichter sie sind“, sagt Szöcs.
Das klingt nach recht simpler Macht- und Klientelpolitik, auch für den Schriftsteller György Dalos. „Ich würde für die Kulturpolitik der Orban-Regierung nicht das Wort Kulturkampf benutzen“, sagt er. „Es ist kein Kampf, sondern Zerstörung. Die einzige Idee scheint die Macht zu sein – und dass sie möglichst viele Posten bekommen.“