Wellness zum Schnäppchenpreis
Ein winterlicher Samstagmorgen in Berlin. Um sechs Uhr früh liegt die Stadt noch in der Dämmerung. Auf dem Bürgersteig in Buckow warten Doris und Fred Garbaczok mit zwei Reisekoffern. Ein Kleinbus hält an. „Guten Tag, schön, dass Sie pünktlich sind“, begrüßt Fahrerin Petra Franke das Ehepaar. Garbaczoks sind die letzten Fahrgäste, die sie an diesem Morgen abzuholen hat. Die Bustür schließt mit einem lauten Knall. „Ab nach Swinemünde!“
Petra Franke (Mitte) chauffiert fast jedes Wochenende deutsche Kurgäste an die polnische Ostseeküste. Foto: A. Hreczuk
Jeden Samstag rollen allein aus Berlin mehrere dutzend Reisebusse in Richtung polnische Ostseeküste. Nach Swinemünde, Kolberg, Darlowo oder Misdroy. An Bord sind Deutsche, die sich eine Kur in Polen gönnen. Ein Luxus wird Alltagsgut. Beinahe 300.000 Medizin-Touristen fahren jährlich nach Polen, um sich dort behandeln zu lassen, Tendenz steigend.
Kur zum Schnäppchenpreis
„In diesem Jahr schicken wir etwa 12.000 Leute zur Kur nach Polen“, sagt Rainer Löweberg von der Firma „MediKur“ in Berlin, die auf Gesundheitstourismus spezialisiert ist. „Jedes Jahr sind es etwa 10 Prozent mehr als im Vorjahr.“ 1999, als die Firma mit Gesundheitsreisen anfing, war sie noch ein Vorreiter. Mit dem großen Boom hatte auch Löwenberg nicht gerechnet. Die ersten Gäste waren ältere Menschen, die in Westpolen früher ihre Heimat hatten. Erst die Einschnitte in der Gesundheitsversorgung zu Hause brachten einen neuen Trend: die Kur in Polen zum Schnäppchenpreis.
Die Empfangsdame in Kurhotel „Irys“ in Swinemünde hat keine Pause. Am Wochenende wird ständig ein- und ausgecheckt. „Morgen habe sie einen Arzt-Termin und Behandlungen, heute noch treffen Sie die Reiseleiterin. Hier ist der Speisesaal, unten der Frisör, die Kosmetikerin und das Behandlungszimmer“, wiederholt sie zigmal. Gesprochen wird nur Deutsch. Auch bei Tisch fällt kein einziges polnisches Wort, genauso wie in den Behandlungszimmern.
„Bei uns kommen im Schnitt mehr als 90 Prozent der Gäste aus Deutschland“, schätzt Jerzy Fifielski, der Leiter von „Irys“. Seine Ausrichtung auf den deutschen Markt will er gar nicht leugnen. „Deutsche sind als Kunden stabil“, sagt er. „Sie kommen und bezahlen.“ Für Polen ist das Angebot dagegen weniger erschwinglich. „Klar gibt es Polen, die sich viel leisten können“, sagt er. Doch die wollten keine Kur an der polnischen Ostsee, sondern lieber ein luxuriöses Spa-Zentrum am Mittelmeer oder in der Karibik.
Sogar Polnischkurse werden angeboten
„Wir bieten eine traditionelle Kur. Und welcher durchschnittliche polnische Rentner leistet sich regelmäßig eine Kur?", fragt Fifielski. „Wir müssen uns auf die Deutschen verlassen.“ Und so ist das Angebot auf deutsche Kunden ausgerichtet: Deutschsprachiges Personal ist selbstverständlich, das Programm ist auf deutsche Gäste zugeschnitten. „Deutsche tanzen und singen gerne, also veranstalten wir Unterhaltungsabende für sie“, sagt Fifielski. Sogar ein Polnischkurs wird angeboten, was sich, zur Überraschung des Leiters, als Volltreffer entpuppte. „Die Deutschen freuen sich, wenn sie ein paar Worte sagen können und dabei noch verstanden werden“, lächelt er mit Sympathie.
Der Swinemünder Hotelleiter Jerzy Fifielski schneidet sein Angebot ganz auf deutsche Kurgäste zu. Foto: A. Hreczuk
Die meisten deutschen Kurgäste an der Ostsee kommen aus den östlichen und nördlichen Bundesländern. Die Entfernung ist ein entscheidender Faktor. „Drei Stunden mit dem Auto und wir sind schon da“, sagt Fred Garbaczok. „Für uns Berliner ist das sehr praktisch“. Zum achten Mal machen die Eheleute in Swinemünde eine Kur. Immer im selben Hotel, immer im Winter. Viele Stammgäste gibt es hier, einige kommen sogar zweimal jährlich, im Herbst und Frühling. Im Sommer so Fifielski, sei es hier vielen zu laut. „Ganze Familien kommen dann, es ist voll. Und die Kurgäste aus Deutschland sind ältere Menschen, die ihre Ruhe brauchen.“
Die Krankenkassen bezuschussen die Kur
Außerhalb der Hochsaison sind die Kuren wesentlich günstiger. „Die Leute, die zu uns kommen, sind nicht reich. Sie sind Rentner, meist aus der Mittelschicht“, so Fifielski. Seit es möglich ist, einen Zuschuss von der Krankenkasse für die Kur in Polen zu bekommen, nutzt etwa jeder dritte Gast die Gelegenheit. Doch immer noch zahlen die meisten die Reise aus der eigenen Tasche. „Der Aufwand mit der Krankenkasse ist zu groß“, sagen Garbaczoks. „Und der Preis ist immer noch so günstig, dass wir uns die Reise einmal pro Jahr leisten können“.
„Leichtkur“ nennen sie den Aufenthalt: Massagen, Wassergymnastik, Entspannung und Spaziergänge. Mit der Qualität der Wellness-Angebote sind die Garbaczoks zufrieden, nicht nur mit dem Preis. Sonst würde man ja hier nicht jedes Jahr wiederkommen, lacht Doris.
Nordic Walking an der polnischen Ostseeküste. Foto: A. Hreczuk
Den Ansturm der Ausländer auf die polnischen Kurorte und Kliniken hat auch die Regierung wahrgenommen. Neben Bernsteinschmuck wurde im vergangenen Jahr auch der Gesundheitstourismus zu einer von 15 polnischen „Exportspezialitäten“ erklärt, Kernbereiche, die der Staat künftig fördern will.
Polen ist attraktiv wegen seiner Nähe
Das Potenzial ist groß, sagt auch Jan Wawrzyniak, Leiter des polnischen Fremdverkehrsamtes in Berlin. In dieser Sparte kann es Polen sogar mit Tschechien und Ungarn aufnehmen. „Ein Argument, das besonders für Polen spricht, ist die Nähe. Außerdem ist die Vielfalt dieses Segments in Polen weit größer als in anderen Ländern. Es können praktisch alle Leiden behandelt werden, noch dazu in jeder Umgebung, die man sich wünschen kann: an der Ostsee, im Gebirge, an Seen oder im Flachland.“
Der Reiseunternehmen Rainer Löwenberg sieht es etwas nüchterner. „Mittlerweile gibt es ein Überangebot an Kurreisezielen in Polen“, sagt er. „Künftig werden sich nur solche Angebote behaupten, die eine hohe Qualität bieten.“ Aber er schiebt sofort nach: „Einfache Kururlaube bleiben weiterhin gefragt, vor allem angesichts der wirtschaftlichen Situation in Deutschland.“ Auch Petra Franke bereitet sich auf weitere Reisen in Richtung polnische Ostsee vor. Für die nächsten Wochen sind alle Plätze schon ausgebucht.