Skepsis gegenüber kostenlosem Nahverkehr
Eine Busfahrt vom Stadtzentrum nach Pirita, dem Villenviertel Tallins, führt am Meer entlang. Das Wasser glitzert in der Aprilsonne, im Rückspiegel erscheint die Silhouette der mittelalterlichen Hansestadt. Neben einer jungen Mutter, die ihr Baby um den Bauch gebunden trägt, setzt sich eine Frau in ihren Fünfzigern. „Kostenlos Busfahren? Das ist eine Dummheit“, sagt sie. „Auf Qualität kommt es an, nicht auf den Preis.“
In der Hauptstadt Estlands wird bald das wahr, was die Piratenpartei in Berlin bislang vergeblich fordert: Ab 2013 soll die Benutzung von Bussen, Straßenbahnen und Trolleybussen kostenlos werden. Ein entsprechender Beschluss des Stadtrates gilt nur noch als Formsache, nachdem über 75% der Teilnehmer an einer Bürgerbefragung zum kostenlosen Nahverkehr Ja sagten. Doch in Tallinn stößt das Vorhaben auf weit größere Skepsis, als diese Zahlen vermuten lassen. Und so beteiligten sich auch nur 20% der Wahlberechtigten an der Abstimmung. Die niedrigste Beteiligung gab es im Tallinner Stadtteil Pirita – die höchste im Plattenbaubezirk Lasnamäe.
Ihren Unmut drücken viele Tallinner im Internet aus, nicht an der Wahlurne. Sie befürchten eine sinkende Qualität des Nahverkehrs, wenn die Einnahmen aus dem Fahrscheinverkauf wegfallen. Die Bürgerbefragung wird als durchsichtiges Manöver von Bürgermeister Edgar Savisaar kritisiert, der im kommenden Jahr wiedergewählt werden möchte. Kritisiert wird schließlich, dass die Abstimmung ausgerechnet in dem Land, das die elektronischen Wahlen erfunden hat, nicht im Internet stattfand. Auf diese Art, so der Vorwurf, konnten sowjetnostalgische Rentner einfacher teilnehmen als junge, berufstätige Menschen.
Seine Wähler hat Bürgermeister Savisaar in Lasnamäe. Die Busfahrt von Pirita führt weg vom glitzernden Wasser. Mitten auf einer Wiese sind in den 1970er und 1980er Jahren Wohnblocks für mehr als 100.000 Menschen entstanden. Mehr als jeder vierte Tallinner lebt in Lasnamäe. Kritische Stimmen gibt es auch hier. „Tallinn hat nicht mal genug Geld für die Straßenbeleuchtung“, sagt ein junger Mann und springt energischen Schrittes in den Bus. Doch mit dieser Meinung steht er in Lasnamäe, wo auf der Straße mehr Russisch als Estnisch zu hören ist und manch einer noch der Sowjetunion nachtrauert, ziemlich alleine da.
Von 1,3 Millionen Einwohnern Estlands gehört gut ein Viertel der russischsprachigen Minderheit an, in der Hauptstadt Tallinn jeder zweite. Sie gehören zu den großen Verlierern in dem Land, dessen Wirtschaft sich seit seiner Unabhängigkeit 1991 dynamisch entwickelte – auf Kosten sozialer Absicherung. „Ich verdiene nur 200 Euro, davon muss ich 18 Euro für Fahrkarten ausgeben“, erzählt eine Passantin in Lasnamäe. „Die Stadt hat genug Geld“, findet ein älterer Herr, „besser es für kostenlose Busse ausgeben, als für irgendwelche anderen Projekte.“
Wo die Stadt die benötigten rund 20 Millionen Euro hernehmen will, ist allerdings tatsächlich noch unklar, zumal derzeit noch weitere umstrittene Mammutprojekte wie der von der Unesco misstrauisch beäugte Bau eines neuen Rathauses vor den Toren der historischen Altstadt auf der Agenda stehen. Bürgermeister Savisaar jedoch lässt Kritik bislang an sich abperlen und nennt sie die typische Oppositionsreaktion auf eine gute Initiative.