Improvisierte Ostern im Geisterdorf
Anastas wirft sich in seinen besten Anzug, denn heute ist Ostersonntag in seinem Heimatdorf Selta in den mittelalbanischen Bergen. Der orthodoxe Schäfer wirft einen Blick in die Küche, wo Frau und Tochter das Osterbrot in den Ofen schieben und hauchdünne Blätterteigplatten zum zuckergetränktem Gebäck Bakllava aufschichten. Ostern ist schließlich das ersehnte Ende der Fastenzeit – und Anlass, eine Ziege aus der eigenen Herde zu schlachten und Freunde zu einem Glas selbstgebrannten Traubenschnaps einzuladen.
Doch zu Ostern kehren auch die Gedanken an die dunkle kommunistische Vergangenheit wieder. „Das war eine bedrückende Zeit“ sagt der Schäfer Anastas, 60, „Alles Religiöse wurde ins eigene Haus verbannt. Wenn man erwischt wurde, wie man Ostern feierte, dann konnte man im Gefängnis oder im Arbeitslager landen. Fanden die Spitzel gefärbte Eierschalen auf dem Kompost, konnte man abgeführt werden.“
Dem kommunistisch-stalinistischen Regime von Enver Hoxha diente die chinesische Kulturrevolution als Vorbild für einen in Osteuropa einzigartig rücksichtslosen Kulturkampf gegen die „rückständigen Bräuche der Bourgeoisie“. 1967 rief Hoxha Albanien zum „ersten atheistischen Land Europas“ aus. Mehr als 1.600 Kirchen und Klöster wurden zerstört, Priester entführt, gefangen oder umgebracht. Im nordalbanischen Shkodra wurde 1973 ein „Museum des Atheismus“ eingerichtet, in dem kommenden Generationen der Hass gegenüber allem Religiösen gepredigt wurde. Heute leben in Albanien offiziell 70 Prozent Muslime und 30 Prozent Christen. Wie hoch unter ihnen der Anteil von Atheisten ist, weiß man nicht.
Anastas geht durch sein verlassenes Dorf, das mit seinen gewaltigen steingedeckten Häusern und ehernen Holztoren eine Kulisse für einen Sergio-Leone-Western abgäbe. Wie viele andere Dörfer leidet Selta unter der Massenemigration. Auch Anastas‘ Sohn ist nach Griechenland ausgewandert, wo es ihm trotz der schlechten Wirtschaftslage noch besser geht als in Albanien. Von weitem hört man den scheppernden Klang der Dorfglocke – sie ist gesprungen, denn im Kommunismus missbrauchte man sie für den morgendlichen Weckruf zur Arbeit im Kollektiv.
Auch in diesem Jahr sind viele Emigranten zu Ostern in ihre Heimat zurückgekehrt. Einige von ihnen werden wohl bleiben, denn es gibt Anzeichen dafür, dass immer mehr albanische Arbeitsmigranten Griechenland verlassen, um der drohenden Arbeitslosigkeit zu entgehen. Viele wollen einer alten Tradition folgen und das hölzerne Tragekreuz in einer Art Wettbewerb für ihre Kinder ersteigern, um damit den Osterumzug um die Kirche anzuführen. Erst vor ein paar Tagen haben Freiwillige die Kirche nach 20 Jahren erstmals wieder überdacht. In die Mauerritzen geklebte Kerzen spenden etwas Helligkeit. Für die Provinz hat die seit 1937 von der griechischen unabhängige orthodoxe albanische Kirche kein Geld.
Die kurze Ostermesse rezitiert ein pensionierter Laienpriester. Die Frauen mit weißen Kopftüchern singen, doch viele kennen die Texte der Kirchenlieder nicht mehr. „Die Jugendlichen sind heute gläubiger als die Alten“, sagt ein Emigrant und küsst eine Ikone, ein auf eine Holztafel gezogenes Abziehbild. Viele Emigranten wie er haben ihre Gläubigkeit im orthodoxen Griechenland wiedergefunden und in ihre Heimat zurückgebracht. „Daraus erwächst ein Verantwortungsgefühl: Wir sollten unser Dorf nicht im Stich lassen!“
Auch Anastas bekommt schließlich noch einen Grund zum Feiern. Sein Blutsbruder Arif aus dem muslimischen Nachbardorf ist gekommen, um mit ihm zu essen, zu trinken und zu singen. Arif und Anastas sind unzertrennlich. Nicht nur, weil sie als Schäfer ihr Arbeitsleben auf der Sommerweide bei Wind und Wetter teilen. Sie leben religiöse Koexistenz nach ihren eigenen ungeschriebenen Regeln. Dazu gehört der wechselseitige Besuch zu religiösen Feiertagen, Taufen oder Hochzeiten. Zum großen und kleinen Bajram, den höchsten muslimischen Feiertagen, ist Anastas schon jetzt eingeladen.