Streit um Kriegsrechts-General Jaruzelski
Einmal pro Woche für zwei Stunden darf das Gericht dem alten Mann den Prozess machen. So entschieden es kürzlich die Amtsärzte in Warschau. Wojciech Jaruzelski muss sich in verschiedenen Verfahren wegen „kommunistischer Verbrechen“ verantworten. Zehn Jahre Haft drohen dem General. Doch unter den gegebenen Umständen ist es keineswegs ausgemacht, dass es je ein letztgültiges juristisches Urteil über die Taten des 88-Jährigen geben wird, der an diesem Freitag vor 30 Jahren das Amt des polnischen Ministerpräsidenten übernahm.
„Wozu auch?”, fragt ein gewichtiger Teil der polnischen Öffentlichkeit. „Da tritt ein alter kranker Mann auf. Dieser Prozess ist eine Schande für uns alle“, schrieb der Publizist Wojciech Mazowiecki, der Sohn des ersten postkommunistischen Premierministers Tadeusz Mazowiecki. Und doch gibt es fast 30 Jahre nachdem Jaruzelski angesichts der Wirtschaftskrise und der wachsenden Bedeutung der Gewerkschaft Solidarnosc im Dezember 1981 das Kriegsrecht über Polen verhängte, noch immer eine lebhafte Debatte über Schuld und Sühne. Während des Kriegsrechts, das Jaruzelski erst 1983 wieder aufhob, kamen zehntausende Oppositionelle ins Gefängnis. Dutzende Menschen starben bei Zusammenstößen mit der Staatsmacht. Ein Grund, warum ein gewichtiger Teil der polnischen Gesellschaft vor allem die Wahrheit wissen will. So auch Zbigniew Romaszewski, der einst als Dissident unter der kommunistischen Herrschaft litt. Resigniert fügt der 71-Jährige jedoch hinzu: „Jaruzelski wird nie die Wahrheit sagen.“
Der „General mit der schwarzen Brille“, der seit seiner Jugend unter einer Lichtüberempfindlichkeit leidet und wegen seines Äußeren immer wieder als „finstere Gestalt“ beschrieben wird, hat sich zu Jahresbeginn in die Einsamkeit Masurens zurückgezogen. Dort will er seine Memoiren verfassen. „Das kann ein epochales Werk werden“, sagt einer seiner Nachfolger an der polnischen Staatsspitze, der Sozialist und ehemalige Staatspräsident Alexander Kwasniewski. Jaruzelski war zu Weihnachten 2010 an einer schweren Lungenentzündung erkrankt. Das Boulevardblatt „Fakt“ mutmaßte daraufhin, der alte General könnte sich in seinen Erinnerungen womöglich dazu bekennen, dass „tausende unschuldig Eingekerkerte und zahllose Tote auf sein Konto gehen“.
Der ehemalige Dissident Romaszewski und viele andere erwarten jedoch keine Reue. Und so sind vor allem die Historiker gefragt, um die Frage zu entscheiden, die Polen seit 30 Jahren entzweit: Hat der Mann, der seit seiner Jugend im Marineinternat dem Militär angehörte, sein Land mit dem Kriegsrecht in eine Katastrophe gestürzt? Oder hat Jaruzelski Polen nicht eher vor einer sowjetischen Invasion bewahrt und Blutvergießen vermieden? So stellt es der General selbst dar.
Auch in der Geschichtswissenschaft gibt es Verfechter beider Seiten. Die Mannheimer Historikerin Patricia Hey hat allerdings im vergangenen Jahr eine Studie vorgelegt, die das Geschehen umfangreich dokumentiert. Danach zeichnet sich ein klareres Bild ab. Die Sowjetführung um KPdSU-Chef Leonid Breschnew baute zwar gezielt eine Drohkulisse gegen Polen auf. Als die Solidarnosc 1981 immer mehr Zulauf erhielt, gab es zahlreiche Manöver von Truppen des Warschauer Paktes. Doch eine Invasion war demnach nicht geplant. Vor allem war die Rote Armee seit 1979 zu sehr in den zermürbenden Kampf in Afghanistan verwickelt.
Und so fiel die Wahl der Moskaus 1981 auf einen Hardliner aus der polnischen Führung, der den Willen des „großen Bruders“ exekutieren sollte. Dieser Mann war Jaruzelski. „Ich würde mir wünschen“, sagt deshalb der einstige Jaruzelski-Vertraute und spätere Premierminister Jozef Oleksy, „dass der General in seinen Erinnerungen über die Seelenkämpfe schreibt, die er zu bestehen hatte, und über seine Fehler, die er zweifellos gemacht hat.“