“Perestroika führte zum Untergang der UdSSR”
„DIE PERESTROIKA FÜHRTE GERADEWEGS ZUM UNTERGANG DER SOWJETUNION“
Im Interview mit n-ost erklärt Russland-Experte Gerhard Simon, warum die Perestroika zum Zerfall der UdSSR führte und weshalb Gorbatschow den Zusammenbruch beschleunigte – gegen seinen Willen.
Warum nahm der Zerfall der Sowjetunion in den baltischen Staaten seinen Anfang?
Simon: 1991 lief der Film rückwärts. Die baltischen Staaten waren die letzten, die 1940 zwangsweise in die Sowjetunion angegliedert wurden. Das Wissen um die völkerrechtswidrige Inkorporation in die Sowjetunion ging nie ganz verloren. Mit Glasnost und Perestroika konnte dies offen ausgesprochen werden. In den baltischen Staaten blieb außerdem das Selbstbewusstsein lebendig: „Wir sind ein Teil Europas“.
n-ost: Warum ging die sowjetische Führung 1991 nicht entschlossener gegen die Separatisten vor? Die Führung Russlands beispielsweise verhinderte wenige Jahre später mit Gewalt die Abspaltung Tschetscheniens.
Simon: Ein zentraler Faktor ist die Person und Politik Gorbatschows, der im Unterschied zum russischen Präsidenten Boris Jelzin eher auf Gewalt verzichtete – allerdings nicht immer. Dies zeigte der gewaltsame Umsturzversuch in Vilnius im Januar 1991. Die Streitkräfte stürmten das Fernseh-Zentrum und besetzten das Innenministerium. 20 Menschen starben im Kugelhagel und unter Panzerketten. Aber die Anwendung von Gewalt war nie konsequent und wurde schnell abgebrochen. Jelzin schloss hingegen Gewalt nicht grundsätzlich aus, wie 1993 die Beschießung des Weißen Hauses in Moskau zeigte.
n-ost: Wie war also die Situation im Frühjahr 1991?
Simon: Im Februar 1991 befand sich die Sowjetunion bereits im Auflösungsprozess. Großdemonstrationen in Moskau bekundeten Solidarität mit Litauen. Die russischen Demokraten um Jelzin unterstützten die baltischen Staaten. Die russische Führung erkannte die Unabhängigkeit Litauens an. Die Sowjetunion nahm ein schnelles Ende, weil es keine Zentralgewalt mehr gab. Der Westen war übrigens seinerzeit keineswegs begeistert von der Demonstration für die Freiheit Litauens und zunächst ausgesprochen zurückhaltend bei der Anerkennung der Unabhängigkeit der baltischen Staaten.
n-ost: Auch Sie sahen Gorbatschows Politik damals kritisch.
Simon: Nach 20 Jahren bewerte ich manches anders als damals als Zeitzeuge. Ich sehe heute Gorbatschow und seine Politik viel positiver. Damals habe ich ständig kritisiert, dass er nur ein halber Demokrat sei, nur halbfreie Wahlen zugelassen habe. Heute ist mir klar, in welchem Maß Gorbatschow die Sowjetunion von den Zwängen des Stalinismus befreite – ohne Gewalt. Gorbatschow hat dem Parteiapparat systematisch den Boden unter den Füßen weggezogen. Er sah, dass die Parteiherrschaft keine Zukunft hat, dass die Sowjetunion mit der Diktatur des Parteiapparates nicht Weltmacht bleiben kann. Seine Vorstellung, die KPdSU zu demokratisieren, war jedoch ein Irrtum, denn sie ließ sich nicht in eine parlamentarische Partei umwandeln. Gorbatschow war der Zerstörer der Partei Leninschen Typs, weil er ihr Machtmonopol beseitigte. Dies war anfangs nicht geplant, geschah dann aber bewusst.
n-ost: In Russland sehen viele den Zerfall der Sowjetunion als geopolitische Katastrophe an. Wäre diese vermeidbar gewesen?
Simon: Gorbatschow ist der Ansicht, und viele andere auch, dass der Zerfall der Sowjetunion hätte vermieden werden können. Tatsächlich führte die Perestroika geradewegs zum Untergang der Sowjetunion. Es begann mit dem Zerfall der KPdSU. Der erste Schritt war der Austritt der litauischen KP am 19. Dezember 1989 aus der Mutterpartei in Moskau. Die KPdSU aber war die entscheidende Klammer, sie hatte die UdSSR geschaffen. Wenn jetzt die nationalen Teile der Partei wegbrachen, was sollte sie zusammen halten?
n-ost: Was also besiegelte das Ende der Sowjetunion?
Simon: Niemand mehr glaubte noch, dass man in der KPdSU gut aufgehoben war, auch die Kader nicht. Wie Gorbatschow seine Politik angelegt hatte, lief es auf das Ende des Staates Sowjetunion hinaus. Das wollten er und seine Mitstreiter zwar nicht, aber sie konnten die Folgen ihrer Politik nicht einschätzen.
Zur Person: Gerhard Simon ist emeritierter Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität zu Köln und leitender wissenschaftlicher Direktor des Bundesinstituts für internationale und ostwissenschaftliche Studien im Ruhestand.