Prags gesammeltes Schweigen
Ende Januar 1946 trifft in Furth im Wald in der Oberpfalz ein Zug mit etwa 1.200 Sudetendeutschen ein. Es ist der erste Zug mit Menschen, die organisiert die Tschechoslowakei verlassen mussten. Nach Monaten des Wütens sogenannter Roter Garden - die Tschechen selbst nennen sie bis heute „Raubgarden“ – läuft die kollektive Vertreibung der Sudetendeutschen an, jetzt mit Rückendeckung der Alliierten. Am Ende verlieren fast drei Millionen Sudetendeutsche ihre Heimat. Damit endet das Kapitel des fast tausendjährigen Zusammenlebens von Tschechen und Deutschen auf einem gemeinsamen Territorium.
Jahrestag vergeht geräuschlos
Am heutigen Tschechien ist dieser Jahrestag nahezu geräuschlos vorbeigegangen. Das erstaunt auf den ersten Blick, sind die Prager Medien doch derzeit voll mit schlimmen Geschichten von Mord und Totschlag in der Zeit der „wilden“ Vertreibung noch vor Ende Januar 1946. Ständig werden neue Gräber gefunden, in denen ermordete Deutsche verscharrt worden waren. Zuletzt hat der öffentlich-rechtliche Hörfunksender „Radiozurnal“ ausführliche Recherchen über ein Massaker bei Podersam, dem heutigen Podborany, im Saazer Land angestellt. Am 7. Juni 1945 waren dort 68 Sudetendeutsche umgebracht worden. Aus Rache für die Untaten der nationalsozialistischen Besatzer Böhmens und Mährens. Eine Zeitung sagte unlängst voraus, dass man in Tschechien noch Hunderte Massengräber von Deutschen finden werde.
Doch Manchen geht die vermeintliche Einseitigkeit der derzeitigen Geschichtsaufarbeitung gegen den Strich. So äußerte Präsident Vaclav Klaus vor einiger Zeit die Sorge, dass die den Massakern vorangegangenen „unvergleichlich schlimmeren” Taten der Nazis völlig vergessen würden.
Als „deutschfreundlich“ verdächtigt
Und auch einigen Zeitungen geht die Aufarbeitung der tschechischen Rache mittlerweile zu weit. Überraschenderweise auch der konservativen „Lidove noviny“, die beklagt, dass deutsche und österreichische Medien die tschechischen Nachkriegsereignisse ausschlachten würden, um die viel größere deutsche Schuld zu relativieren. Das angesehene Blatt gehört, wie auch mehrere andere in Tschechien, einem deutschen Verlag. Nun scheint es gegen Kritiker anzuschreiben, die die Zeitung per se verdächtigen, inhaltlich „deutschfreundlich“ zu sein.
Auffällig ist, dass der renommierte Kommentator der „Lidove noviny“, Lubos Palata, einen langen Beitrag zum 65. Jahrestag der Vertreibung nicht im eigenen Blatt, sondern in die führenden slowakischen Tageszeitung „Sme” veröffentlicht hat. In seinem Artikel bezeichnet er die Vertreibung als „das schändlichste Kapitel der jüngeren tschechischen Geschichte“. Die Slowaken haben ein unverkrampfteres Verhältnis zu ihren Deutschen, den Karpatendeutschen. Das slowakische Parlament hatte sich schon vor 20 Jahren für das Unrecht an ihnen entschuldigt und dabei den Verlust der kulturellen Mannigfaltigkeit der Slowakei durch die Vertreibung bedauert.
In besagtem Zeitungsbeitrag geht Palata genau auf diese Frage ein: die Frage, ob die Vertreibung nötig war, und welche Folgen sie für Tschechien selbst hatte. „Womöglich sind wir aber noch immer nicht bereit, die Antwort auf diese Frage zu suchen. Und deshalb herrscht in Tschechien in diesen Tagen auch so eine Stille“, schreibt der Autor. Sein Gastbeitrag in einer slowakischen Zeitung sollte der einzige eines Tschechen zu diesem Thema bleiben.