Polen

Fußball-Träume gegen die Armut

„Mama, wir müssen los“, drängt Kacper seine Mutter. „Ich darf nicht zu spät zum Training kommen.“ Der Zehnjährige spielt in einem lokalen Fußballclub in Elk in Masuren. „Fußball ist das Beste“, sagt er. Ungern trennt er sich von seinem Lieblings-T-Shirt von der letzten Fußball-WM. Kacper spielte früher in einem anderen Club in der Stadt. Aber der war zu weit weg, niemand konnte ihn hinbringen und nach dem Training abholen. Er fand einen anderen Club, ganz in der Nähe. Jetzt trainiert Kacper für sein erstes Turnier. Sein Idol ist Messi vom FC Barcelona. Will er eines Tages auch so bekannt werden? „So gut kann nicht jeder sein.“ Der dunkelhaarige Junge ist bescheiden. Das muss er auch sein.

In Elk werden nur wenige Träume wahr. Elk ist eine Stadt mit 60.000 Einwohnern in Nordostpolen- dem sogenannten „Polen B“: schlechte Infrastruktur, Armut, hohe Arbeitslosigkeit. „Hier gibt es keine Zukunft“, sagt Malgorzata, Kacpers Mutter. Die 35-Jährige ist in Eile. Sie muss in den nächsten Tagen viel erledigen, und will doch so viel Zeit wie möglich mit ihren zwei Söhnen und ihrem Mann verbringen. Denn am nächsten Dienstag fährt sie los: nach Deutschland, zur Arbeit bei der Caritas.

Seit zwei Jahren schickt die Caritas in Elk Haushaltshilfen nach Deutschland. „30 sind es bisher“, berichtet die Mitarbeiterin Renata Stanczyk. „Frauen, die hier keine Arbeit finden, aber arbeiten müssen, weil ihre Familien sonst nicht über die Runden kommen.“ Männer finden in der Gegend auch keinen Job. Allein das Ausland bietet Einkommensmöglichkeiten für viele Familien.

Auch Malgorzata war lange arbeitslos. Ihr Mann ist Arbeiter, von seinem Gehalt kann die Familie nicht leben. Malgorzata ist ausgebildete Schneiderin, ließ sich später zur Krankenpflegerin umschulen. Sie erhoffte sich eine Stelle im Krankenhaus in Elk. Doch dort wurde eine Einstellungssperre verhängt. Zufällig fand Malgorzata im Internet Informationen über einen kostenlosen Sprachkurs bei der Caritas. Sie meldete sich an. Nach dem Abschluss bekam sie über die Caritas auch ein Jobangebot in Nordrhein-Westfalen.

„Man braucht eine Menge Mut, um sich zu entscheiden“, sagt Malgorzata. In ihren Augen stehen Tränen. Das erste Mal fuhr sie im Mai 2011 zur Arbeit nach Deutschland. „Den ganzen Weg weinte ich. Ich hatte Angst, mein Mann würde es nicht schaffen, alleine mit den Kindern. Vorher habe vor allem ich mich um die Kinder gekümmert“, erzählt sie. „Ich wollte keine Rabenmutter sein“, fügt Malgorzata hinzu. „Aber wir hatten keine Wahl.“

Von einer Kollegin, die auch nach Deutschland fährt, wendeten sich Verwandte ab. Die Familie hatte Schulden, der Ehemann war arbeitslos, es fehlte an Geld zum Leben. Der Job in Deutschland war die einzige Chance für die Familie. Es war eine gemeinsame Entscheidung. Die Verwandten ihres Mannes beschimpften sie trotzdem, als „schlechte Frau und Mutter“. Am meisten lästerte der Schwager, der selbst jahrelang im Ausland gejobbt hatte.

In Deutschland ließ Malgorzata einen eigenen Telefonanschluss einrichten. „Vor dem Frühstück, nach der Schule, vor dem Schlafen – mehrmals am Tag rufe ich an.“ Die Kinder gehen zur Schule, der Vater bereitet das Essen zu. „Es klappt. Mein Mann und meine Kinder sind verantwortungsbewusst.“
Kacper vermisst seine Mutter, aber er ist auch stolz auf sie. „Sie wagte es wegzufahren, damit es uns besser geht.“ Er hat viele Klassenkameraden, deren Mütter und Väter im Ausland arbeiten. Es sei einfacher zu wissen, dass man nicht der Einzige ist.

Zum EU-Beitritt 2004 war die Arbeitslosigkeit in Polen mit weit über 20 Prozent doppelt so hoch wie heute. Zwei Millionen Polen wanderten aus, um anderswo Arbeit zu finden. Die meisten gingen nach Großbritannien, das seinen Arbeitsmarkt für die neuen EU-Länder sofort öffnete. Vor allem aus West- und Ostpolen, wo die Arbeitslosigkeit am höchsten war, wanderten viele Menschen aus. Einige gingen, ohne in die Heimat zurückzukehren zu wollen, für andere war das Ausland eine vorläufige Lösung, denn Familie und Kinder warteten auf sie zu Hause.

Sogenannte „Euro-Waisen“ gibt es immer mehr in der Region, sagt Pater Pawel Sufleta. Er leitet in Elk eine Einrichtung für Kinder und Jugendliche. Mit Spenden bauen sie nun einen Fußballplatz. Ein eigenes Fußballteam haben sie schon, hinzu kommt noch ein Volleyball- und Basketballteam. „Sport ist eine Alternative zum sinnlosen Herumtreiben und hilft gegen schlechte Gedanken“, sagt Pater Pawel. Es kommen Kinder, deren Eltern zu arm sind, um für eine Freizeitbeschäftigung zu bezahlen. Aber auch solche, für die ihre Eltern nur wenig Zeit haben. „Das Problem in unserer Region ist Armut, Arbeitslosigkeit und eine immer stärkere Migration.“

Doch so dramatisch, wie es die Medien oft schilderten, sei die Situation nicht. „Die Kinder bleiben in der Regel nicht allein, meistens fährt nur ein Elternteil ins Ausland. Man könnte sie ‚Euro-Halbwaisen’ nennen“, sagt Pawel Sufleta. Allerdings habe fast jede zweite Familie in der Gemeinde mit den Folgen von Migration zu kämpfen. „Wenn ein Elternteil fehlt, wird das Kind weniger umsorgt. Es ist immer eine Gefahr“, sagt er. Kinder und Eltern werden sich fremd, die Bindung wird schwächer. „Aber ich verstehe auch, dass es meistens die einzige Lösung für die Familie ist“, sagt der Priester. „Es zeigt, dass sie um die Zukunft ihrer Familie kämpfen wollen.“

„Wir haben uns schon Gedanken gemacht, ob die Familien die Trennung überhaupt aushalten würden“, gibt Caritas-Mitarbeiterin Renata Stanczyk zu. Für eine christliche Organisation war es keine einfache Entscheidung, arbeitslose Frauen ins Ausland zu schicken.„Es gibt in Polen immer noch Frauen, die sich hauptsächlich um ihre Kinder und Ehemänner kümmern, die Hausaufgaben kontrollieren, putzen und kochen. Sie halten die Familie zusammen.“ Aber Männer zu vermitteln ist schwieriger. Die Caritas kann in Deutschland nur Arbeitsplätze als Haushaltshilfe anbieten, die als Frauenjobs wahrgenommen werden. Um den Frauen den Spagat zwischen Arbeit und Familie zu erleichtern, bietet die Caritas kürzere Einsätze an: „Wir bieten den Frauen an, abwechselnd zwei Monate im Ausland und zwei Monate zu Hause zu sein.“

Neben der Arbeitsvermittlung kümmert sich die Caritas auch um die Betreuung der zurückbleibenden Kinder: „Sie können in unserem ‚Club’ essen, Hausaufgaben machen, Nachhilfe erhalten und spielen. Damit entlasten wir die Väter und beschäftigen die Kinder.“

Malgorzata macht sich dennoch keine große Hoffnungen. Die Zukunft ihrer Kinder malt sie schwarz. „Wenn sie eine gute Schule abgeschlossen hätten, eine gute Ausbildung hätten, in Warschau leben würden. Ach, in Warschau da haben die Leute ganz andere Chancen. Aber hier, bei uns, gibt es keine Perspektive. Vielleicht wäre es gar nicht so schlecht, wenn Kacper ein Talent für Fußball hätte: „Gute Fußballspieler sind ja nicht arbeitslos“. Im Fernsehen hat Kacper einen Bericht über eine Fußballschule vom FC Barcelona gesehen. „Die ist bestimmt sehr teuer“, räumt er nüchtern ein. „Wir könnten uns das nicht leisten. Und Warschau ist zu weit weg.“

Dieser Text wurde vom Kindermissionswerk „Die Sternsinger“ und von Renovabis, dem Osteuropahilfswerk der katholischen Kirche, unterstützt.


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