Polen

Das verborgene KZ

Der Wald verrät seine Geheimnisse erst auf den zweiten Blick. Vor mehr als 65 Jahren, als das polnische Städtchen Krzystkowice noch Christianstadt hieß, stand hier eine der größten Sprengstoff- und Munitionsfabriken des Dritten Reiches. Heute liegen auf dem weichen Waldboden nur noch bröcklige Ziegel, die Fundamente längst zerstörter Gebäude.

Ein Mann in Trekkinghose und Wanderschuhen bahnt sich hier, kurz hinter der deutsch-polnischen Grenze, seinen Weg durch das Dickicht. Es ist der deutsch-tschechische Schriftsteller Jan Faktor. Er sucht nach den Spuren seiner Vergangenheit.

Als Junge in Prag lauschte Faktor den Geschichten seiner Mutter Franzi, seiner Tante Lissy und Großmutter Anna. Die drei tschechischen Jüdinnen erzählten ihm vom Leben in den Lagern. Von Theresienstadt, Auschwitz und auch von Christianstadt. Als sie deportiert wurden, war Faktors Mutter gerade 16 Jahre alt. In Auschwitz verbrachten die Frauen nur drei Monate, bevor sie im Sommer 1944 nach Christianstadt gebracht wurden. Die Nazis brauchten dringend Arbeitskräfte für die Munitionsfabrik.

Etwa 25 000 Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge aus ganz Europa hielten ab Frühjahr 1940 den riesigen Industriekomplex in Gang, unter ihnen auch Franzi, Lissy und Anna. Christianstadt war eine Außenstelle des KZ Groß Rosen. Bis zu 1000 tschechische und ungarische Jüdinnen drängten sich  allein in den fünf Baracken im Lager „Am Schwedenwall“ zusammen. Dieses war nur eines von insgesamt elf Lagern, die zum Komplex Christianstadt gehörten.

Soldatenstiefel und Wehrmachtsorden waren jahrzehntelang vergraben

„Die meisten Leute hier wissen nicht, worauf sie treten“, sagt Stefan Jasiński. Ohne ihn hätte Jan Faktor weder Lager noch Fabrik gefunden. Wer sich nicht auskennt, ist in dem mehr als 20 Quadratkilometer großen Waldgelände verloren. Jasiński lebt in Krzystkowice, das heute zu Nowogród Bobrzanski (Naumburg am Bober) gehört. Als Kind hat er in den Wäldern gespielt. Er fand die Gebeine von Soldaten der Wehrmacht und der Roten Armee, die sich hier im Februar 1945 erbitterte Kämpfe geliefert hatten. Fünf Jahre hat Jasiński gebraucht, um das gesamte Areal akribisch zu vermessen und das Ergebnis auf großformatigen Karten aufzuzeichnen.

Die Fundstücke seiner Streifzüge bewahrt der 67-Jährige im Keller seines Wohnblocks auf. Er hat viele Spuren von damals gefunden: Soldatenstiefel zum Beispiel. Wehrmachtsorden. Oder einen Löffel mit der Aufschrift„Krupp“ und einem Namen auf Persisch, kleine Metalltafeln, in die die Daten der Arbeiter eingestanzt sind. Der frühere Berufssoldat hat seinen Dienst zum Teil in der Militäreinheit geleistet, die im Kernbereich der früheren Fabrik stationiert ist. Das Gebiet ist umzäunt und für Besucher tabu. Doch der größere Teil, dort, wo die Ruinen sind, ist frei zugänglich.

Dass sich der Schriftsteller Jan Faktor und Stefan Jasiński vor vier Jahren trafen, war Zufall – und doch fast zwangsläufig. Was Christianstadt angeht, gibt es nur wenige Fachleute und wenig Geschriebenes - eine Doktorarbeit, einige Magisterarbeiten  und ein Erlebnisbericht der deutsch-amerikanischen Literaturprofessorin Ruth Klüger. Nun hat Jan Faktor die Erlebnisse seiner Großmutter, Mutter und Tante in seinem jüngsten Roman verarbeitet.   „Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder Im Reich des heiligen Hodensack-Bimbams von Prag“, das Buch, das daraus entstanden ist, war im vergangenen Herbst für den Deutschen Buchpreis nominiert. Es beschreibt eine Prager Jugend der Sechziger- und Siebzigerjahre, zwischen Staatssozialismus und erotischem Erwachen. Ein Kapitel spielt in Christianstadt. „Ich hätte das niemals schreiben können, ohne hier gewesen zu sein“, sagt Jan Faktor. Er geht ein paar Schritte zur Seite und studiert den mitgebrachten Plan. Vom Lager „Am Schwedenwall“, in dem seine Mutter, Tante und Großmutter untergebracht waren, ist nicht viel übrig geblieben – Grundmauern, ein Keller, ein Loch im Boden. Manchmal erahnt man die Umrisse der Baracken mehr, als dass man sie sieht.

Hier wurden Fliegerbomben und Munition gefertigt

Dabei war die Munitionsfabrik Christianstadt einer der größten ihrer Art in Nazi-Deutschland, vielleicht sogar die größte. 1936 liefen die Planungen für den Bau der Munitionsfabrik an. Damals wussten nur Eingeweihte, was sich im Christianstädter Forst tat. Das Projekt war als „Geheime Reichssache“ eingestuft, der Tarnname der Rüstungsfabrik „Ulme“. 1939 begannen kurz vor Kriegsbeginn die Bauarbeiten. Die private DAG hat die Christianstädter Fabrik gebaut und betrieben, finanziert wurde sie vom Heereswaffenamt.

In Rekordzeit entstanden mitten im Wald 820 Gebäude. Die Planer nutzten die Gegebenheiten des Geländes zur Tarnung. Wer das Fabrikgelände durchquert, gewinnt an keiner Stelle einen Eindruck von seiner wahren Größe, so weiträumig verteilt sind die Anlagen. Eingebettet in das hügelige Gelände sind sie dem Blick aus der Ferne entzogen. Ab 1943 wurden in Christianstadt Fliegerbomben gefertigt, aber auch Munition für Karabiner und Granaten für Geschütze. „Damals waren die Anlagen technisch auf dem neuesten Stand“, erklärt Stefan Jasiński. Bis heute stehen die riesigen Betonbauten im Wald –  Hallen, in denen in großen Kesseln Hexogen, Nitrozellulose und andere Bombenzutaten angerührt wurden, Füllstellen für die Sprengladungen. In fünf Silos lagerte Methanol, in gebührendem Abstand zu den übrigen Produktionsstätten.

Die jüdischen Sklavenarbeiter waren in der Sprengstoffproduktion im Einsatz. Ihnen wurden die schwersten und gefährlichsten Arbeiten zugeteilt. „Das Schlimme war nicht nur die Explosionsgefahr, sondern die bewusste Vergiftung der Belegschaft“, sagt Jan Faktor. Beim Befüllen der Mörsergranaten atmeten Faktors Mutter Franzi und die anderen Frauen die Dämpfe der Chemikalien ein. Die färbten ihre Haare feuerrot, verursachten epileptische Anfälle und Amnesien: „Sie lagen auf dem Fußboden und bemerkten gar nicht, dass ihnen der Schaum aus dem Mund trat.“ Beim Hantieren mit den hochgefährlichen Stoffen kam es auch zu Verbrennungen und immer wieder zu Explosionen – acht sind überliefert, davon zwei schwere. Eine weitere verhinderte Faktors Großmutter Anna. Sie bemerkte, dass aus einem Munitionslager Rauch aufstieg, und informierte den Meister. „Dafür bekam sie bis ans Ende eine Extraportion Essen, die sie mit ihren Töchtern teilte“, sagt Jan Faktor.

„Bei uns in der Familie haben diese Geschichten immer eine sehr große Rolle gespielt. Es wurde dabei viel gelacht – auch über Christianstadt“, erzählt der Schriftseller. Denn nach Auschwitz erschien den Pragerinnen das Lager am Rande der Fabrik wie das Paradies: „In Auschwitz stank es, es wuchs kein Grashalm. In Christianstadt hingegen war es grün, die Baracken waren neu und dufteten“, so der Schriftsteller. Und trotz Hunger, Kälte und Erniedrigung behielten die Frauen ihren Humor. Beim Marsch zur Fabrik im Morgengrauen etwa quittierte eine Aufseherin eine Bemerkung über das Wetter mit einem hasserfüllten „Für euch scheint die Sonne nicht!“ Da brach die Kolonne der Häftlingsfrauen in schallendes Gelächter aus: „Soweit ich weiß, wurden sie nicht einmal bestraft. Was soll man auch mit lachenden Menschen machen?“

Ein vergessenes Kapitel der europäischen Geschichte

Mit dem Auto fahren Faktor und Jasiński tiefer in den Wald hinein. Über 100 Kilometer Betonstraßen durchziehen den Wald, dazu 76 Kilometer Schiene. Das Gelände war gut angebunden, dabei weit weg von den Städten und so besser geschützt vor feindlichen Bombern. Wasser gab es genug im nahen Fluss, der Bober.

Im Heizkraftwerk steigt der Schriftsteller geländerlose Treppen empor, hangelt sich an meterdicken Pfeilern entlang. Dass Christianstadt ein weithin vergessenes Kapitel der deutschen und der europäischen Geschichte ist, das treibt ihn um, über seine literarischen Interessen hinaus. Es kann nicht sein, sagt er – so eine riesige Fabrik, so viele Menschen, die dort arbeiten mussten, so viele, die dort litten und starben: „Und heute weiß niemand mehr etwas davon. Das tut weh.“

Nach 1945 transportieren die sowjetischen Besatzer die Maschinen und alles, was sich bewegen ließ, Richtung Osten. Zurück blieben zerschlagene Keramikfliesen, Schutt und teilweise kontaminierte Böden. Seit einigen Jahren bietet Stefan Jasiński Führungen an, erzählt Schulklassen und Reisegruppen von der explosiven Geschichte des Waldes. Es kommen aber auch viele Einheimische, die nichts über die alte Munitionsfabrik wussten. Gerade erst hat er Mitarbeiter der Forstverwaltung herumgeführt, selbst die wussten nicht, was dort zu Kriegszeiten vor sich ging.

Für die drei Frauen aus Jan Faktors Familie nahm die Zeit in Christianstadt ein gutes Ende.  Als das Lager kurz vor Kriegsende evakuiert wurde, gingen Franzi, Lissy und Anna mit auf den Todesmarsch Richtung Westen und konnten nahe der heutigen deutsch-polnischen Grenze fliehen. Jan Faktor hat auch nach dem Gut gesucht, in dem sie mit einem Trupp von rund 1000 Frauen Halt machten und sich, abgemagert, wie sie waren, unter dem Zaun hindurchzwängten. Ein Pfarrer versteckte die drei Frauen, bis der Krieg zu Ende war. 1951 wird Jan Faktor in Prag geboren. Seine Mutter gibt ihm den Namen ihrer ersten großen Liebe in Theresienstadt. Der junge Mann ging damals in den ersten Transport nach Auschwitz.


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