„Die Belarussen wollen die Sanktionen der EU“
Augenfälliger könnte der Gegensatz zwischen dem ‚offiziellen’ und dem ‚anderen’ Belarus kaum sein: Als am Freitag die Europäische Union über weitere Einreiseverbote für führende Vertreter und Financiers des Lukaschenko-Regimes beriet, reiste Olga Karatch gerade, wie so oft in den letzten Monaten, durch mehrere EU-Staaten: von Prag über Polen nach Litauen, fast 900 Kilometer. An der Europäischen Humanistischen Universität (EHU) in Vilnius, der belarussischen Exil-Hochschule, bekam sie feierlich ihr Abschlusszeugnis überreicht.
Wäre Olga Karatch jetzt in Belarus, säße sie mit hoher Wahrscheinlichkeit im Gefängnis. Und dürfte das Land nicht mehr verlassen. Doch die 32-jährige Bürgerrechtlerin, Leiterin der Organisation „Nash dom“, ist rechtzeitig bevor Lukaschenko auf einer weiteren „schwarzen Liste“ kürzlich zahlreiche Regimegegner mit Ausreiseverboten belegte, Ende 2011 aus Belarus geflohen.
Seitdem kämpft die couragierte junge Frau mit schier unerschöpflicher Energie und bewundernswertem Optimismus, in Nachtschichten und provisorischen Büros, in Prag, Vilnius, Berlin und Russland für das, was Lukaschenko in ihrer Heimat mit immer brutaleren Methoden zu unterdrücken versucht: elementare Grundrechte wie Rede- und Meinungsfreiheit, eine faire Rechtsprechung und menschenwürdige Haftbedingungen. „Wir brauchen eine grundlegende Erneuerung des politischen und sozialen Systems nach europäischen Standards“, sagt sie nachdrücklich. „Das ist, wie wenn man ein neues Haus baut: Ja, es ist viel Arbeit, ja, es macht Lärm und Dreck. Aber es ist die Mühe wert. Daher auch der Name unserer Organisation: Nash dom – unser Haus“.
„Nash dom“ macht im Kleinen vor - durch Petitionen, Streetwork und Informationskampagnen -, was Olga sich als Modell für das ganze Land vorstellt: eine schrittweise Veränderung der Gesellschaft von innen. Immer mehr Belarussen folgen ihr. Die Mitgliederzahlen explodieren förmlich. „Je mehr Lukaschenko droht, desto mehr Leute wollen bei uns mitmachen“.
Diese Graswurzelarbeit erfordert Energie, Kraft und Mut. Und ist dennoch ohne Hilfe von außen zum Scheitern verurteilt. Immer mehr Belarussen wünschen sich daher harte Sanktionen der EU. „Lukaschenko dachte, wenn er diese Sanktionen provoziert, erschrickt die Bevölkerung. Aber die Leute verstehen die Sanktionen als Strafe für Lukaschenko, nicht für sich selbst. Ihnen ist klar: Wenn die vereinten Kräfte des Volkes nicht ausreichen, um Lukaschenko zur Vernunft zu bringen, ist Hilfe von außen nötig.“
Die am Freitag von der EU verhängten Einreiseverbote für weitere Führungspersonen des Lukaschenko-Regimes und das Einfrieren ihrer Vermögen hält Olga Karatch für richtige Schritte, die das Regime empfindlich treffen. Aber sie warnt auch: „Die EU muss jetzt konsequent sein und weitere Schritte folgen lassen. Sie darf auf keinen Fall zu schnell wieder Gesprächsbereitschaft signalisieren.“ Keinerlei Kompromisse mehr, bis alle politischen Gefangenen freigelassen sind. Ohnehin sei es ein Fehler der EU gewesen, sich auf einen Handel mit politischen Gefangenen einzulassen. „Mit Erpressern macht man keine Tauschgeschäfte“. Lukaschenko habe die politischen Gefangenen schnell instrumentalisiert und probiere jetzt auf immer neue Weise, ihre Freilassung zu umgehen – aus gutem Grund: Er wisse genau, dass die Bevölkerung immer weniger hinter ihm stehe und habe panische Angst, dass unter den politischen Gefangenen ein „Anti-Lukaschenko“ sei. Auf diese Verzögerungstaktik dürfe sich die EU nicht einlassen. „Sie muss jetzt hart bleiben, sonst werden alle ihre weiteren Strategien umsonst sein“.
Das Gefühl eigener Machtlosigkeit und Beklemmung, das manchen Westeuropäer beim Blick nach Belarus regelmäßig überfällt, scheint Olga Karatch nicht zu kennen. Im Gegenteil: Ungeachtet der düsteren politischen Situation im Land ist Olga fest überzeugt, dass Belarus gute Chancen hat, sich zu einer funktionierenden Demokratie zu entwickeln. Entscheidend sei, dass sich die Menschen nicht mehr einschüchtern lassen. Im Gegenteil: „Je mehr Lukaschenko droht, desto lauter protestieren die Menschen.“ Das war vor einigen Jahren noch nicht so. „Da sah es so aus, als wenn die Leute zufrieden sind, wenn sie Wodka und Speck haben. Und jetzt hat sich gezeigt, dass das für viele Leute nicht alles ist.“