Panzer in Vilnius
„Ich sitze immer in diesem Sessel. Von hier aus kann ich Darius in die Augen schauen und bin ihm nah.“ Vince Gerbutaviciene hat Tränen in den Augen und nippt an ihrem Tee. Vis à vis im Wohnzimmer hängt das Portrait ihres 17-jährigen Sohnes. Sein Blick ist ernst, das Hemd hoch geknöpft, die Stirntolle wild. „Litauen, Vaterland,“ ist in den Schal gewebt, den die Mutter auf den Rahmen genagelt hat.
Am 13. Januar 1991 umarmte Vince Gerbutaviciene ihren Sohn ein letztes Mal, bevor er auf die Straße zu seinen Freunden rannte. „Schon seit Tagen war Darius in Vilnius mit seinem Motorrad unterwegs“, erinnert sich die Mutter. „Die sowjetischen Panzer rollten aus den Kasernen. Wir Litauer sollten wieder der ehemaligen Sowjetunion beitreten, hatte Michail Gorbatschow im Radio gesagt. Aber wir wollten nicht. Darius war überall dabei, er kämpfte für die Freiheit seiner Heimat.“
Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs hatte sich die ehemalige Sowjetrepublik Litauen am 11. März 1990 von Moskau unabhängig und zu einem demokratischen Staat erklärt. Kurz darauf hatten Lettland und Estland ihre Unabhängigkeit verkündet. Aber der Kreml gab sich nicht geschlagen und forderte Litauen am 11. Januar 1991 endgültig zur Umkehr auf. Als sich der damalige Staatschef Vytautas Landsbergis weigerte, Moskau zu folgen, rollten die sowjetischen Panzer aus den Kasernen. Die sowjetische Armee war noch überall in den baltischen Ländern stationiert. Die Panzer sollten das Fernsehgebäude in Vilnius umzingeln und so den Informationsfluss in Litauen stoppen.
CHRONIK
März 1985 Der Generalsekretär der KPdSU, Michail Gorbatschow, läutet den Umbau des gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Systems der Sowjetunion ein, die „Perestroika“.
1986 Unter dem Schlagwort „Glasnost“ werden Einschränkungen der Meinungs- und Pressefreiheit gelockert, eine weitere Demokratisierung zugelassen.
1988 In den baltischen Ländern werden so genannte Volksfronten gebildet. Ziel dieser antikommunistischen Bewegungen ist die Unabhängigkeit von der UdSSR.
23.08.1989 Mit einer Menschenkette gedenken die drei Baltischen Länder, noch Sowjetrepubliken, dem 50. Jahrestages des Hitler-Stalin Paktes. Mehr als zwei Millionen singender Demonstranten aus Estland, Lettland und Litauen fassen einander an der Hand und beginnen mit der so genannten „singenden Revolution“.
11.03.1990 Der Oberste Rat Litauens erklärt seinen Austritt aus der UdSSR
04.05. 1990 Lettland erklärt seinen Austritt aus der UdSSR
08.05. 1990 Estland erklärt seinen Austritt aus der UdSSR
11.01.1991 Michail Gorbatschow stellt Litauen und dem Parlamentspräsidenten Vytautas Landsbergis ein Ultimatum: „Geben Sie die Unabhängigkeit auf und erkennen Sie die Verfassung der UdSSR wieder an.“ Vytautas Landsbergis lehnt ab. Noch ist in allen drei baltischen Ländern sowjetisches Militär stationiert. Überall rücken Panzer aus und halten die Menschen in Schach.
13.01.1991 Sowjetische Panzer umzingeln das Fernsehgebäude in der litauischen Hauptstadt Vilnius. 14 Menschen werden überrollt oder erschossen beim Versuch, das Gebäude zu verteidigen.
14.01.1991 Kaum sind die ersten Schüsse gefallen, fliegt Boris Jelzin von Moskau nach Tallinn. Er verurteilt die blutigen Übergriffe der Sowjetarmee. Gorbatschow sei ein Mörder an Sowjetbürgern. Über Nacht wird Boris Jelzin zur Leitfigur der Unabhängigkeitsbewegung Russlands.
16.01.1991 Panzer umzingeln das Parlament in Lettland. Wie in allen baltischen Staaten bauen die Menschen Barrikaden, um sich vor der Sowjetarmee zu schützen. Sieben Menschen sterben in Lettland
20.08.1991 Nach dem Augustputsch in Moskau zerbricht die ehemalige Sowjetunion und die Baltischen Staaten werden international als souveräne Staaten anerkannt.
Er stellte sich vor die Panzer
Ganz in der Nähe des Fernsehsenders lebte der 17-jährige Darius. „ Er ist auf die Straße gerannt und hat sich vor die Panzer gestellt“, erzählt seine Mutter. „Mein Junge wollte die Truppen aufhalten. Dabei wurde er von fünf Kugeln durchsiebt.“ Sie saß in ihrer Wohnung hörte die Gewehrsalven, anschließend die Sirene vom Rettungswagen. „Ich wusste noch nicht, dass dort mein Darius gestorben war“, sagt sie, „aber ich habe Furchtbares geahnt.“
Den Versuch der Litauer, das Fernsehen vor den sowjetischen Truppen zu schützen, beendete das Militär blutig: 14 Menschen wurden erschossen oder von Panzern überrollt, mehr als 1.000 Litauer verletzt. Der 13. Januar geht als „Vilniusser Blutsonntag“ in die Geschichte ein.
Das Ereignis alarmierte Moskau
In Moskau werden die Ereignisse in Litauen zu einer wichtigen Etappe des Machtkampfs im Kreml. Kaum waren in Vilnius die Schüsse gefallen, flog Gorbatschows späterer Nachfolger Boris Jelzin in die estnische Hauptstadt Tallinn, um sich an alle Russen im Baltikum zu wenden. Boris Jelzin verurteilte die blutigen Übergriffe der Sowjetarmee in Vilnius. Es gäbe keine rechtliche Grundlage dafür. Gorbatschow sei ein Mörder. Michail Gorbatschow, der damalige Präsident der Sowjetunion, behauptet indes bis heute, über die Ereignisse nicht informiert gewesen zu sein. Er steht in Litauen noch immer unter Mordanklage. Erst nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde Litauen international als souveräner Staat anerkannt.
Vince Gerbutaviciene schlägt ein Fotoalbum auf. Die ganze Familie habe Litauens Freiheit herbeigesehnt, erzählt sie stolz. Darius sei mit gerade 15 Jahren der „Sajudis“-Bewegung beigetreten, die für die Unabhängigkeit Litauen eintrat, und habe sich gemeinsam mit den Eltern am 23. August 1989 in die Baltische Menschenkette eingereiht. Von Litauen über Lettland bis Estland hatten sich damals 2 Millionen Menschen einander an die Hand genommen. Am 50. Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes hatten die drei baltischen Länder so an ihre sowjetische Besatzung erinnert und ihre Unabhängigkeit angemahnt.
Ja, sie sei glücklich, dass Litauen unabhängig sei, sagt Vince Gerbutaviciene. „Darius träumte immer von einer freien Heimat. Sein Traum hat sich erfüllt. Aber um welchen Preis? Ohne Darius ist mein Leben traurig und leer.“