Ungarn

„Das ist doch ein Witz!”

„EU-Ratspräsidentschaft? Mit dieser Regierung? Das ist doch ein Witz!”, sagt András empört. Der 25-jährige Theaterwissenschaftler sitzt in einer sogenannten Ruinenkneipe in einem unsanierten Haus im Herzen von Budapest. Er macht seinem Unmut Luft: „Mir hängen die Zustände in diesem Land zum Hals heraus. Zuerst haben die Sozialisten über Jahre alles heruntergewirtschaftet. Und jetzt kommt dieser Westentaschendiktator namens Orbán und will sich ganz Ungarn untertan machen.” Ungläubig fragt er: „Und der soll ein halbes Jahr lang die EU führen? Spinnen die?”

Hohe Ziele für den EU-Ratsvorsitz

András macht keinen Hehl daraus, dass er schleunigst weg will aus Ungarn. So wie viele andere junge Magyaren auch. Die rechtsnationale Regierung von Viktor Orbán lässt sich davon allerdings nicht beirren: Ihre volle Aufmerksamkeit ist derzeit auf die Europäische Union gerichtet. Im ersten Halbjahr 2011 übernimmt Ungarn die Ratspräsidentschaft der Staatengemeinschaft, deren Mitglied das Land seit 2004 ist.

Dafür hat Regierungschef Viktor Orbán von der rechtskonservativen Partei Fidesz hohe Ziele formuliert: Reformen zur Schaffung von Arbeitsplätzen, die Stärkung der europäischen Energiepolitik, mehr Mitspracherecht für EU-Bürger, die Ausweitung der globalen Rolle Europas und die Integration der Roma, die mit rund sieben Prozent Anteil an der Bevölkerung die größte Minderheit in Ungarn stellen.

Regierung Orbán zunehmend in Frage gestellt

Ungeachtet ihrer ehrgeizigen Ziele für den EU-Ratsvorsitz wird die Regierung Orbán in Europa aber zunehmend in Frage gestellt. In den sieben Monaten seiner Amtszeit nutzte der Regierungschef seine Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament, um seine Machtfülle weiter auszubauen – und verletzte dabei ständig demokratische Prinzipien. Das neue Gesetz, das ab 2011 Presse und Rundfunk der Kontrolle einer Medienbehörde unterwirft, ist nur ein Glied in einer Kette von Entscheidungen, die im In- und Ausland Empörung auslösten.

Sich auf eine parlamentarische Zweidrittelmehrheit stützend beschloss Orbán etwa, in Budgetfragen die Befugnisse des Verfassungsgerichts außer Kraft zu setzen. Auf diese Weise will er möglichen Vetos des obersten Gerichts vorbeugen, um seine umstrittenen Maßnahmen zur Konsolidierung des Haushalts durchzubringen. Denn Ungarn steht mit dem Rücken zur Wand: Das Land geriet im Herbst 2008 so stark wie kaum ein anderes EU-Mitglied in den Strudel der Finanzkrise. Ohne ein 20 Milliarden Euro schweres Rettungspaket des Internationalen Währungsfonds und der Europäischen Union wäre das Land heute pleite. Die Arbeitslosenquote beträgt elf Prozent. Eine beispiellos hohe Bankensteuer und zahlreiche Sonderabgaben, mit denen vor allem ausländische Handelsketten, Telekom-Unternehmen und Energiebetriebe in die Pflicht genommen werden, sollen wieder Geld in die Staatskasse spülen – doch diese sind mit großer Wahrscheinlichkeit verfassungswidrig.

„Vasalle” in Spitzenpositionen

Für Irritationen im In- und Ausland sorgte auch die Ankündigung von Wirtschaftsminister György Matolcsy, die Einzahlungen von rund drei Millionen Bürgern in die privaten Rentenkassen über einen Zeitraum von 14 Monaten zum Stopfen von Budgetlöchern zu verwenden. Später beschloss die Regierung sogar, sich aus der bisherigen Mitfinanzierung der privaten Rentenkassen zurückzuziehen. Stattdessen forderte die Regierung die Bürger auf, in die staatliche Pensionskasse überzuwechseln.

Demokratiepolitisch fragwürdig ist auch die Besetzung wichtiger ungarischer Staatsämter mit Parteisoldaten. Besonders hohe Wellen schlug dabei die Wahl des ehemaligen Profi-Fechters Pál Schmitt zum Staatsoberhaupt. Der Vorgänger von Schmitt, László Sólyom, war bereits gegangen, weil er von Orbán als unbequem und bockbeinig betrachtet wurde. Pál Schmitt dagegen versprach schon in seiner Antrittsrede, als „Motor” der Regierungspolitik zu fungieren.

Anfeindungen und Schikane

Schmitt ist aber nur einer von vielen „Vasallen” in Spitzenpositionen des Staatsapparates. An der Spitze des Rechnungshofes, der Finanzaufsichtsbehörde, der Obersten Staatsanwaltschaft und des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und Fernsehens stehen heute ebenfalls Personen, die der Regierung Orbán botmäßig sind. Als letzte unabhängige „Bastion” gilt heute nur noch die Nationalbank. Notenbankchef András Simor sah sich denn auch wiederholt mit Anfeindungen und Schikanen konfrontiert. Vorerst sind aber noch alle Versuche der Regierung fehlgeschlagen, Simor zu zermürben.

Angesichts dieses innenpolitischen Hintergrunds hat die führende ungarische Wochenzeitung „hvg” die Frage aufgeworfen, ob die Regierung Orbán die EU-Ratspräsidentschaft Ungarns denn überhaupt glaubwürdig vertreten könne. Woher nehme die Union unter dem EU-Vorsitz Ungarns etwa die „moralische Grundlage” gegenüber dem Beitrittsland Kroatien strenge Forderungen in Sachen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu stellen, wenn Orbán und seine Regierung diese mit Füßen träten?

Laut dem ungarischen Intellektuellen und Essayisten Ákos Szilágyi gibt es „tausend Namen“ für jenes System, das in Ungarn unter der Regierung Orbán im Enstehen ist: „Gelenkte Demokratie, souveräne Demokratie, illiberale Demokratie, Tyrannei der Mehrheit.“ Im Grunde laufen diese Umschreibungen aber auf dasselbe hinaus: die autoritäre Herrschaft einer beinahe unumschränkten Macht, so Szilágyi.


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