Estland

Streifzug durch Tallinn, Europas Kulturhauptstadt 2011

Wie ein uneinnehmbares Bollwerk stehen die steinernen Wehrtürme mit den roten Ziegeldächern rund um die Altstadt von Tallinn. Der dickste Turm heißt „Dicke Margarete” – und man kann sich vorstellen, wie einst Kanonenkugeln gegen die Mauern krachten, ohne diese zu zerstören. Tallinn wurde nie erobert, weil die Festung eine der besten Verteidigungsanlagen Nordeuropas besaß . Wegen dieser imposanten historischen Bauten reisen heute viele in die einstige Hansestadt Reval. Und anders als im Mittelalter sind Gäste sehr willkommen.

Zu jeder Jahreszeit streifen Schweden, Finnen, Deutsche oder Amerikaner durch die Altstadt und fotografieren die Häuser mit den spitzen Giebeln. Lastenzüge an den schmalen Fassaden deuten an, dass hier einst Kaufmannsfamilien wohnten, die womöglich von Lübeck aus über die Ostsee nach Estland reisten. Heute legen vor allem Kreuzfahrtschiffe in Tallinn an – ein US-Magazin kürte Estlands Hauptstadt 2010 neben Barcelona, Kopenhagen und Venedig zu Europas top cruise destination. Umgeben von dicken Mauern versuchen als Knappen oder Burgfräulein verkleidete Studenten mit flotten Sprüchen, den Ausländern Leckereien und Schmuck anzubieten oder sie in die „Olde Hanse“ zu locken, wo bei Kerzenschein Bier in Tonkrügen und Bären- oder Elchfleisch serviert wird.

Zahllose architektonische Details schmücken die Fassaden, von einem Dach blickt eine schwarze Katze auf das Pflaster der Pikk-Straße. „Die alten Häuser sind der Schatz, den wir bewahren müssen“, sagt Boris Dubovik. Der Chef der Denkmalschutzbehörde wacht über das Erbe zweier Städte: Die Hansestadt Reval war jahrhundertelang geteilt in die Unterstadt, in der die Kaufleute wohnten, und die Oberstadt. Auf dem Domberg (estnisch Toompea) residierten Bischöfe, Ordensleuten und Adlige.
Der steile Aufstieg zur Oberstadt durch die Gasse „Pikk jalg“ lohnt sich: Gegenüber dem Parlament Riigikogu thront die mächtige Newskij-Kathedrale, die der russische Zar 1894 als Zeichen seines Machtanspruchs bauen und mit prächtigen Ikonen und viel Gold dekorieren ließ. Bei gutem Wetter blickt man auf die Altstadt hinab und sieht am Horizont die vielen Fähren, die zwischen Tallinn und dem achtzig Kilometer entfernten Helsinki pendeln.

„Wir leben direkt am Meer, aber im Gegensatz zu Stockholm oder Barcelona spürt man das bisher nicht“, sagt Maris Hellrand. Das soll sich 2011 ändern, wenn sich die Europäische Kulturhauptstadt unter dem Motto „Geschichten von der Meeresküste” von einer anderen Seite präsentiert. Dass selbst die 400.000 Einwohner lange mit dem Rücken zur Ostsee gelebt hätten, hat laut Sprecherin Hellrand historische Gründe: „Während der Sowjetzeit war das Ufer militärisches Sperrgebiet.”

Mit 16 Millionen Euro Budget verfügt Tallinn 2011 nicht über die Mittel, binnen eines Jahres seine Infrastruktur zu verändern, erläutert Hellrand: „Wir wollen aber Denkanstöße geben”. Entlang eines Küstenstreifens, der fünf Gehminuten von der Altstadt entfernt beginnt, entsteht eine Flaniermeile mit Radwegen und Bänken. Am Ende dieses „Kulturkilometers” wartet ab Juli ein modernes Meermuseum auf Besucher: Der frühere Hangar für Wasserflugzeuge wird gerade von dem Architekten Andrus Koresaar umgebaut. Der 35-Jährige ist gespannt: „Je mehr ich reise, desto öfter merke ich, wie unbekannt Estland für viele ist. Diese Chance müssen wir nutzen.“

Viele Veranstaltungen sollen Touristen und Tallinner ans Meer locken: Für das Kinofestival „60 Sekunden Einsamkeit im Jahr Null” entsteht im August eine große Bühne im Wasser. 60 Regisseure aus aller Welt drehen einminütige Filme über das Alleinsein, von denen nur eine Kopie auf Zelluloid existiert – am Ende des Abends werden alle Filme verbrannt. Für die Eröffnung des Meermuseums komponiert Helena Tulve eigens eine Symphonie, während beim Opernfestival auf der Insel Nargen oder bei den Konzerten in den Ruinen des Pirita-Klosters Höchstqualität geboten wird.

Dass Tallinn 2011 die Musik ins Zentrum rückt, liegt an der Geschichte: Für die Esten bedeutet Kultur vor allem Gesang, denn dank der Volkslieder konnten sie ihre Identität während der Sowjetherrschaft bewahren. 1989 gipfelte der Widerstand in der „Singenden Revolution”, bei der Hunderttausende gegen Moskau protestierten. Ein einzigartiges Ereignis findet im Juli 2011 statt: Beim Sängerfest der estnischen Jugend versammeln sich 20.000 Schüler auf einer Freilichtbühne und wollen für 100.000 Besucher musizieren.


Service

Flug: Lufthansa bietet Direktflüge ab 99 Euro von München und Frankfurt an. Air Baltic fliegt unter anderem von Berlin, Hamburg, Wien und Zürich über Riga nach Tallinn (ab 166 Euro, über airbaltic.de). Die Busfahrt ins Zentrum (Linie 2, bei der Haltestelle Viru Keskus aussteigen) kostet 1,50 Euro, ein Taxi etwa acht Euro.

Unterkunft: Am Hafen liegt in einer früheren Maschinenfabrik das „Il Marine“ (http://www.dominahotels.com/eng/tallinn_hotel_estonia_domina_inn_ilmarine, DZ ab 48 Euro). Direkt in der Altstadt liegt das „Telegraaf“ (www.telegraafhotel.com, DZ ab 155 Euro), Tallinns edelstes Hotel, das im ehemaligen Telegrafenamt untergebracht ist.

Essen: Ein Geheimtipp ist das Lokal „Komeet“ (www.kohvikkomeet.ee), in dem die junge Köchin Anni Arro estnische Küche mit italienischen Einflüssen kombiniert. Als hippstes Lokal gilt momentan das „Moon“ (kohvikmoon.ee), das sich in der Nähe des Hafens befindet.


Wer sich von so viel Kultur erholen will, sollte dem Beispiel der Finnen folgen: Viele Skandinavier kaufen in Estland nicht nur billigen Alkohol, sondern lassen sich in einem Spa verwöhnen. Die Preise sind günstig und wer sich nicht in schicke Hotels wie Telegraaf oder Swissotel traut, der findet viele Wellness-Angebote in Einkaufszentren oder in der Altstadt.

Das estnische Nachtleben beginnt eher spät: Vor zwei Uhr ist in Clubs wie „Privé“, „Hollywood“ oder „Von Krahl“ wenig los. Die Wartezeit verkürzen die vielen Kneipen: Etwa das Pub „Hell Hunt“, die Jazz-Bar „Basso“ oder die „Valli Baar“, deren Einrichtung seit vierzig Jahren die gleiche ist – nur die Auswahl der Cocktails ist größer geworden. Gefeiert wird bis zum Morgengrauen, denn nicht ohne Grund kürte die New York Times Tallinn 2006 zur „Partyhauptstadt des Jahres“. Auch die Nachtschwärmer werden sich beim Bestellen freuen, dass Estland nach seinem EU-Beitritt 2004 seit dem 1. Januar 2011 noch besser in Europa integriert ist: Von diesem Tag an wird mit dem Euro bezahlt.


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