Rumänien

Die letzten Wanderhirten Europas

Cristinel Toderita sitzt auf einem Holzschemel, um ihn herum drängen sich Schafe über Schafe. Er greift in ein Fell, nur unter widerwilligem Blöken lässt sich das Tier zum Schemel ziehen. Kaum ist die Milch im Eimer, schnappt sich Cristinel das nächste Tier. Es muss alles schnell gehen auf der Alm: Fünf Hirten melken jeden Tag 600 Schafe. Cristinel und seine vier Kollegen leisten hier oben, in den rumänischen Karpaten, Schwerstarbeit.

Der Hirte Cristinel hat fast sein ganzes Leben in den Bergen verbracht. Von Frühjahr bis Herbst lebt er in der Einöde auf 800 Meter Höhe in einer Hütte aus Holz. Er schläft auf einer einfachen Matratze, sein Essen bereitet eine Köchin auf einem eisernen Öfchen. Die Hütte hat noch nicht mal ein Fundament, als Fenster dienen Folien. Die Behausung ist lose zusammengesteckt und wird wieder auseinandergebaut, wenn die Hirten weiter ziehen.

Doch nun ist der Wanderhirte erst einmal angekommen. An diesem Flecken werden er und seine Schafe Ostern verbringen, wenn es wärmer wird, geht es noch weiter hinauf in die Berge. Dutzende Lämmer scharen sich um den Hirten. Sie sind erst ein paar Wochen alt, ihr Blöken ist schon von weitem zu hören.


Ist der Wolf gekommen?

Cristinel steht mit seinem Schäferhut vor der Hütte und stützt sich auf seinen Hirtenstab. Einen Moment sind es nicht die Schafe, auf die er sich konzentriert. Ein Jeep kommt den Berg hinauf. Es ist die Schafzüchterin Vasilica Ciobaniuc, Toderitas Chefin. Der Hirte verbeugt sich vor der dunkelhaarigen Frau, der man ihr Alter nicht ansieht. Fast jeden Tag kommt die 50-Jährige hierher, schaut nach dem Rechten, bringt Lebensmittel für die Hirten, holt die Milch für die Weiterverarbeitung ab.

Ob der Wolf in der Nacht gekommen sei, will Vasilica Ciobaniuc von ihrem Hirten wissen. Toderita nickt, ja, aber die Hunde hätten ihn verjagt. Dann geht die Schafzüchterin in die Almhütte und kontrolliert, ob die Bottiche, in denen die Schafs- und Ziegenmilch fermentiert wird, sauber sind.

Vasilica Ciobaniuc wohnt zusammen mit ihrem Mann Stefan in der Kleinstadt Comanesti am Rande der ostrumänischen Karpaten. Das Ehepaar gehört zu den letzten in Rumänien, die Schafzucht noch auf altertümliche Weise betreiben: mit Wanderhirten, die im Sommer durch die Berge ziehen und die Winter auf Weiden im Tiefland verbringen. Transhumanz, Fernweidewirtschaft, lautet der Fachbegriff dafür. Auf dem Balkan und auch in Rumänien war sie über Jahrhunderte eine verbreitete Lebensform. Jetzt stirbt sie aus, überrollt von der Modernisierung. Vielerorts ist es verboten, mit Schafsherden umherzuziehen. Nach Schafswolle besteht kaum noch Nachfrage, und EU-Hygienevorschriften machen aus der Käseproduktion eine aufwendige, teure Prozedur. Dabei ist Schafskäse in Rumänien traditionell ein eher preiswertes Grundnahrungsmittel.


Immer mehr Kontrollen

Die Ciobaniucs verkaufen ihren Käse an einem Stand auf dem Markt von Comanesti. Immer mehr Hygienekontrollen gibt es in letzter Zeit. Doch die Ciobaniucs wollen nicht aufgeben. Sie sind beide mit Schafen groß geworden. Stefan Ciobaniuc, 51, kommt sogar selbst aus einer Schafzüchterfamilie. Vor 1989 war Stefan Elektriker, Vasilica Maschineningenieurin. Schon damals besaßen sie einige Schafe – ein Hobby. Als Vasilica Ciobaniuc nach der Wende ihre Arbeit in einer Holzfabrik verlor, entschied das Ehepaar, die Familientradition der Schafzucht wiederzubeleben.

Die Ciobaniucs haben zu den 600 Schafen noch vier Dutzend Ziegen. Fünf Hirten kümmern sich abwechselnd um die Tiere. Von März bis Oktober ziehen sie durch die Berge in der Gegend um das Städtchen Comanesti, im November wandern sie 50 bis 80 Kilometer ostwärts, an die Auwiesen des Flusses Siret, und bleiben dort bis Februar.

Vasilica Ciobaniuc ist diejenige, die täglich zu den Hirten fährt und zuhause Schafs- und Ziegenkäse herstellt. Stefan Ciobaniuc arbeitet im Gemeinderat von Comanesti als Verwalter der Viehweiden. Nebenbei kümmert er sich um den Käseverkauf und organisiert die Wanderrouten im Herbst und im Frühjahr.

Ein wirklich rentables Geschäft ist diese Art der Schafzucht nicht mehr. Auch das Umherziehen wird immer schwieriger. „Früher sind wir manchmal dreihundert Kilometer südwärts gezogen“, sagt Stefan Ciobaniuc. „Heute ist viel Land Privateigentum, und die meisten Besitzer verbieten uns, es zu betreten.“

Stefan Ciobaniuc lässt es sich nicht nehmen, die Hirten auf ihren Wanderungen manchmal zu begleiten. Diesen Winter hat er Weihnachten und Silvester mit Cristinel Toderita verbracht. In der eisigen Neujahrsnacht saßen sie zusammen in einer winzigen Holzhütte, aßen Lammfleisch und tranken Pflaumenschnaps.


Der Schnaps gefällt ihm am meisten

Cristinel Toderita ist zufrieden mit den Ciobaniucs, sie seien gute Chefs, sagt er. Was gefällt ihm am Hirtenleben? „Der Schnaps“, sagt er und lacht schallend. Aufgewachsen ist er in einem nahegelegenen Dorf, dort leben auch seine Frau und seine drei Kinder. Er selbst ist selten zuhause, er war sein ganzes Leben lang Wanderhirte. „Mein Vater hat mich nicht zur Schule geschickt“, erzählt er, „er war auch Hirte und hat mich mit auf die Alm genommen.“

Toderita steht um vier Uhr morgens auf und zieht dann mit den Schafen los. Mittags kommt er zum Melken zurück, dann geht es wieder weiter bis zum späten Abend. Strom und fließendes Wasser gibt es in der Almhütte nicht, nur einen kleinen batteriebetriebenen Fernseher. „Buttermilch, saubere Luft und viel Bewegung“, sagt Toderita, „so ist das Hirtenleben. Es ist gut und gesund.“


Weitere Artikel